Glückliche Lügen

■ Abschied von der Kindheit im Arbeitermilieu der 30er Jahre: „Der schöne Badetag“ von Stellan Olsson

Wir alle erinnern uns an den Moment, in dem wir unsere Kindheit beendeten. Der Moment, in dem wir entdeckten, daß unsere Eltern auch nur Menschen mit Fehlern und Schwächen sind. Der Moment, in dem die Welt ihre einfache Strukturiertheit aufgab. Der Moment, in dem klar wurde, daß es zwischen Gut und Böse noch jede Menge Möglichkeiten gibt und daß die Dinge oft nicht das sind, was sie scheinen. Der eine erlebt diesen Moment früher, die andere später, aber immer hat er etwas ebenso Frustrierendes wie Erlösendes.

Gustav Adolf ist in diesem Moment sechs Jahre alt. Er wohnt mit Mutter Svea und Vater Axel in einer Wohnung mit Ausblick auf einen grauen Kopenhagener Hinterhof der 30er Jahre. Sein Vater ist für ihn ein Held, der die Welt gesehen und angeblich in Südamerika gelebt hat. Der Kleine kann die immer gleichen Geschichten von den Pampas immer wieder hören. Die offensichtlichen Widersprüche in den Erzählungen des Vaters sind nebensächlich, Gustav Adolf glaubt ihm noch jedes Wort.

Schließlich macht sich die Hausgemeinschaft auf den Weg zum Strand, weil in den Illustrierten das Schwimmen im Meer und das Sonnenbaden als letzter Schrei entdeckt wurde. Auch Vater Axel, der bisher überzeugt war, daß Sonnenstrahlen gefährlich sind und nur Dummköpfe sich ins Meer wagen, läßt sich überzeugen und führt den Auszug der Gladiatoren aus der Mietskaserne an, der aus den Nachbarhäusern mit Gejohle und guten Ratschlägen begleitet wird. Am Meer angekommen, ertrinkt Gustav Adolf beinahe, als sein Vater ihm das Schwimmen mit Gewalt beibringen will. Nach ausgiebigem Alkoholgenuß kommt es zum Streit, in dessen Verlauf Gustav Adolf erfährt, daß sein Vater statt in Südamerika im Gefängnis war. Der Badetag endet schließlich in einer Massenschlägerei mit reichen Bürgerkindern, die das Treiben der Proletarier mit unverhohlenem Spott bedacht hatten.

Regisseur Stellan Olsson inszenierte „Der schöne Badetag“ nach dem gleichnamigen Buch von Palle Fischer ganz aus der Sicht des Kindes in klaren, ruhigen Einstellungen und warmen Brauntönen. Die Poesie der Bilder und die kindliche, unbewußte Ironie des Off-Kommentars von Gustav Adolf („Er lebte drei Jahre in den Pampas. Manchmal fünf.“) kontrastiert er bewußt mit den beengten Verhältnissen des Arbeiterdaseins und dem vulgären Humor des Vaters. Der setzt seinen Haufen auch schon mal mitten in der Küche auf ein Stück Zeitung, weil ihm die Schlange vor dem Klo im Hinterhof zu lang ist.

Dabei entlarvt Olsson die Protagonisten nicht als hirnlose Proleten, sondern stellt ihr Verhalten sympathisch dar. Läßt uns erkennen, daß in einem von stupider Arbeit bestimmten Leben die kleinen Fluchten oft nur aus Selbstlügen bestehen können. Auch der Vater wird trotz seiner Flunkerei und seiner penetranten Besserwisserei nicht zum Monster. Gustav Adolf ist zwar von ihm enttäuscht, aber er wird ihn weiter lieben. Er hat endgültig Abschied genommen von seiner Kindheit und den kleinen, ordentlich strukturierten Verhältnissen. Er ist noch immer sechs Jahre alt, aber schon fast erwachsen und weiß: „Was für ein Glück, daß es Lügen gibt. Stell dir vor, alles, was du hörst, wäre wahr.“ Thomas Winkler

„Der schöne Badetag“, Schweden/ Dänemark 1991, Regie: Stellan Olsson, Buch: Stellan Olsson, Sören Skjär, mit: Erik Clausen, Nina Gunke, Benjamin Rothenborg Vibe u.a., 96 Minuten