Skelett eines Lebens

■ Evelyn Deutsch-Schreiners Schauspieler-Biographie von Karl Paryla

Theater ist das Memento mori im Kunstbetrieb. Wenn der Vorhang fällt, ist alles vorbei. Und die schauspielerische Leistung ist von allen Theaterelementen am vergänglichsten. Bühnenbildmodelle oder Regiebücher sind konservierbar, Charisma nicht. Walter Benjamin hätte darin sicher einen Vorzug gesehen: Von der Reproduzierbarkeit verschont, bleibt der schauspielerischen Arbeit die künstlerische Aura erhalten. Doch jeder Künstler schielt nach der Ewigkeit und also der Schauspieler nach der zumindest schriftlichen Fixierung seines Bühnenlebens. Das Publikum ist daran ebenfalls interessiert, aus anderen Gründen. Die Berufs-Exhibitionisten wollen sich endlich adäquat und unvergänglich gewürdigt sehen, die Parkett-Voyeure hoffen auf die Enthüllung des „wahren“ Gesichts, des alltäglichen Lebens der Theaterkönige und ihres Gefolges.

Nun hat die Wiener Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin Evelyn Deutsch-Schweizer die Biographie des österreichischen Schauspielers und Regisseurs Karl Paryla vorgelegt. „Ein Unbeherrschter“ untertitelt sie ihr Buch nach einem Kortner-Wort. Und unter dieser Prämisse nähert sie sich dem 87jährigen und noch immer aktiven Theatermann auch: vorsichtig und vage, ein Auge fest auf verstreute Aufzeichnungen des heute in Hamburg residierenden Meisters gerichtet, das andere in herkömmliche Theaterlexika vertieft. Sie beherrscht diese Vita nicht, sondern stolpert verbissen durch das offenbar auch nicht allzu reichhaltige Material.

Dieses Buch wird in keiner der genannten Hinsichten dem Anspruch an eine Schauspielerbiographie gerecht. Privates zum Beispiel kommt nur im Gewand des Klischees oder der Randbemerkung vor: Die Theaterbegeisterung des jungen Paryla in den Wiener Stehparketts nach dem Ersten Weltkrieg und das Bücherlesen unter der Schulbank waren fast zu erwarten — welcher Schauspieler gibt seinen Beruf nicht gerne als Berufung von Kindesbeinen an aus? Die Autorin übernimmt auch das Abziehbild des Menschenbeobachters: „Paryla beobachtete das Volk genau, spitzte in der Straßenbahn die Ohren, was und wie die Leute etwas sagten. Den Bezug zu den Menschen wird er nie verlieren.“ Für einen Schauspieler wäre das auch eher ungünstig gewesen.

Die Lebensbedingungen im Züricher Exil während der Nazi-Zeit, zwei Ehen, die Kinder — dies alles wird nur faktisch benannt, ebenso wie die Heerscharen „lebenslanger“ Freunde, die Paryla hatte. Worin diese Freundschaften bestanden, ob und wie sie Paryla künstlerisch befruchteten, bleibt offen. Warum sie dann nennen?

Auch wenn man Deutsch-Schreiner nicht vorwerfen kann, daß sie an Parylas Privatleben nicht partizipierte und ihm darüber auch nicht mehr entlocken konnte, so hätte sie zumindest versuchen sollen, seine Theaterkunst zu verbalisieren. Doch sie weicht mit gelegentlich eingestreuten Kritiken aus und kolportiert Anekdotisches. Die Erkenntnisse, die sie daraus zieht, sind teilweise von einer fast schmerzhaften Banalität: „Heute erinnert er sich noch an eine junge Darmstädterin, die einmal zu ihrem Vater sagte: ,Nein, wenn der Paryla spielt, gehe ich nicht ins Theater, er ist immer so laut und aufregend.‘ Er war vermutlich ein aufregender junger Mann; die Rollen waren aufregend, das Leben war aufregend, die Zeit war aufregend.“

Über Paryla also erfährt man wenig in dieser Paryla-Biographie. Seine politisch linke Einstellung wird nicht näher beschrieben oder gar reflektiert, sein Verhältnis zur DDR bleibt unproblematisiert. Erwähnung finden die realsozialistischen Nationalpreise, die er 1952 für die Rolle des August Bebel in dem Film „Die Unbesiegbaren“ und 1958 für seiner „Wallenstein“-Inszenierung am Deutschen Theater erhielt, nicht ausgelassen werden seine Aufenthalte in der DDR zwischen 1956 und 1961 sowie die anschließenden Anfeindungen von dort und im Westen — aber Hülsen, einige dürre Fakten, mehr nicht.

Nur in einem Bereich hat die Autorin wirklich etwas zu sagen. Fachkundig und erhellend schreibt sie über die österreichische Nachkriegstheatergeschichte: Die zögerliche und widerwillige Integration der Remigranten nach 1945, das Auftrittsverbot Parylas beim Salzburger „Jedermann“ wegen der Veröffentlichung eines antiamerikanischen Spottgedichtes, die behördliche Diskriminierung des selbstverwalteten „Neuen Theaters in der Scala“ in Wien, das Paryla 1948 mitgründete und das 1956 wieder schließen mußte. Diese Kapitel, flott und schlüssig geschrieben, sind lesenswert.

Ansonsten jedoch bietet das Buch nur Stichworte zu einem Lebenslauf, das künstlerische Credo Parylas wird als Anhang im O-Ton abgehakt, in Form der knapp neunseitigen „Notizen“ während der Probearbeit. Von theaterwissenschaftlichem Interesse sind allerdings die zahlreichen Inszenierungsfotos sowie das komplette Rollen- und Inszenierungsverzeichnis. Insgesamt haben wir es hier jedoch eher mit einer Vorstudie zu tun, einem biographischen Skelett, das auf Organe, Fleisch und Farbe noch wartet. Petra Kohse

Evelyn Deutsch-Schreiner: „Karl Paryla. Ein Unbeherrschter.“ Otto Müller Verlag, 1992, 202 Seiten, 48 DM