KOMMENTARE
: Verzweiflungsaktion

■ Arbeitnehmer-Ost fühlen sich von Treuhand und Gewerkschaftsführung im Stich gelassen

Die Metaller im Osten glauben schon lange an einen heißen Herbst. Gestern nun haben rund 1.000 von ihnen in den frühen Morgenstunden den Dresdener Flughafen besetzt — als Protest gegen die geplante Abwicklung der Freitaler Edelstahlwerke. Die Aktion zeigt, daß es mit der Geduld der von weiteren Arbeitsplatzverlusten bedrohten Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern langsam aber sicher zu Ende geht. Kein Wunder, denn eine so massive Entindustrialisierung, wie sie seit der Wende in der Ex-DDR betrieben wird, hätte in jedem westlichen Bundesland längst den Notstand heraufbeschworen.

Als Sündenbock für den Kahlschlag im Osten haben die Gewerkschaften neben der Kohl-Regierung eine Berliner Adresse ausgemacht: die Treuhandanstalt. Mindestens jedes zehnte der einst rund 11.700 Unternehmen hat die Breuel-Behörde inzwischen stillgelegt, weitere zwei Drittel verkauft und den Rest auf Rumpfbetriebe heruntergefahren. Das Ergebnis: Komplette Branchen und Industrieregionen sind verschwunden, mehr als drei Millionen Jobs der Privatisierungsaktion zum Opfer gefallen. Vielerorts ist bereits jeder zweite Erwerbstätige ohne Arbeit. Doch dem kanalisierten Feindbild Treuhand alle Schuld an der Ost-Misere zuzuschieben, lenkt von anderen Tatsachen ab: Viele der Ost-Betriebe sind verrottet und nicht sanierungsfähig, die Produkte oft zu den verlangten Preisen nicht konkurrenzfähig, einige Branchen ohne Milliardensubventionen ohnehin nicht überlebensfähig.

So berechtigt das Anliegen der Menschen im Osten nach dem Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze auch sein mag — mit immer mehr Geld aus dem Westen und einem Sanierungsauftrag der Treuhand läßt sich das Problem allein nicht lösen. Die Lohnstückkosten liegen im Osten doppelt so hoch wie im Westen — hat da nicht auch die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre, die Löhne möglichst schnell an das West-Niveau anzugleichen, einen Patzer gemacht?

Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, haben derzeit keinen leichten Stand. In ihrer Angst um jeden Arbeitsplatz kommen die ostdeutschen Betriebsräte ihren Arbeitgebern bei Abstrichen immer weiter entgegen, während das West-Klientel der Arbeitnehmerorganisation sich keine Zugeständnisse abtrotzen lassen will, wenn es um die deutsch-deutsche Standortkonkurrenz geht. Bei den Ost-Gewerkschaftern wächst indessen der Eindruck, daß sich die Gewerkschaftsbosse viel zu wenig um die Belange der Ost-Mitglieder kümmern — sie sind bereit, ihre Interessen auch ohne Gewerkschaften und notfalls auch an den Gewerkschaften vorbei zu artikulieren. Erwin Single