Pakistan: Furcht vor weiteren Überflutungen

 ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Zweiundsiebzig Stunden lang regnete und schneite es letzte Woche im indischen und pakistanischen Kaschmir. Fünf Flüsse entwässern diese westlichen Ausläufer des Himalaya und strömen wie ein Fächer im pakistinischen Punjab — dem „Fünfstromland“ — im Indus-Strom zusammen. Trotz eines weitverzweigten Kanalnetzes konnten sie die Massen bald nicht mehr halten und setzten über das Wochenende die topfebene Landschaft über mehrere Millionen Hektar weit unter Wasser, rissen Erdwälle ein und überfluteten Dörfer. Mit einer Wucht, die in diesem Jahrhundert ohne Vergleich ist, riß das Wasser im gebirgigen Oberlauf von Kaschmir alle Brücken ein und trug Erdmassen zu Tal, welche sich im fruchtbaren Getreide- und Baumwollanbaugebiet ablagerten und schätzungsweise bereits zehn Prozent der Landesernte zerstört haben.

Aufgrund seiner exponierten topographischen Lage am Fuß eines gewaltigen Einzugsgebietes besitzt Pakistan ein ausgebautes Flutwarn- und Kontrollsystem. Doch obwohl es in den Bergen bereits seit einem Monat ungewöhnlich stark regnet, ließen sich die Behörden von den Fluten überrumpeln und trafen praktisch keine Vorkehrungen. Und als das Ausmaß der Katastrophe erkannt wurde, war es nicht die Zivilverwaltung, sondern die Armee, die versuchte, abgeschnittene Dorfbewohner zu retten oder zu versorgen und den Vormarsch der Fluten zu stoppen. Auch auf indischer Seite waren es Armeeangehörige, die plötzlich über die waffenstarrende Grenze hinweg dem verfeindeten Bruderstaat zu Hilfe kamen.

Für mindestens 2.000 Menschen kam jedoch jede Hilfe zu spät, und Hunderttausende haben nur noch Leib und Leben retten können. Viele unter ihnen äußern heftige Kritik an der Regierung, die für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich gemacht wird. Oppositionsführerin Benazir Bhutto hat die Gelegenheit ebenfalls ergriffen und den Rücktritt von Premierminister Nawaz Sharif gefordert. Die politischen Folgekämpfe werden aber vorläufig noch auf sich warten lassen, ebenso wie die Abschätzung der Folgen für die Landwirtschaft, die noch immer das ökonomische Rückgrat des Landes bildet. Zunächst gilt es, eine noch größere Katastrophe in der südlichen Sind-Provinz zu verhindern. Die im Indus geballten Wassermassen werden mit Beklemmung erwartet, denn sie treffen dort auf ein weit schlechter ausgebautes und veraltetes System von Schutzdämmen und Überlaufkanälen. Zwar hat Nawaz Sharif inzwischen den Notstand ausgerufen und Evakuierungen angeordnet. Aber angesichts der bürokratischen Schwerfälligkeit der „Flood Control Commission“ ist zu befürchten, daß die Zahl der Opfer in den nächsten Tagen immer weiter nach oben korrigiert werden muß.