Sachsens Stahlwerker wollen nicht fliegen

■ Rund zweitausend Metaller aus ganz Sachsen besetzten gestern für drei Stunden den Flughafen Dresden, um gegen die beschlossene Abwicklung der Edelstahlwerke Freital zu demonstrieren...

Sachsens Stahlwerker wollen nicht fliegen Rund zweitausend Metaller aus ganz Sachsen besetzten gestern für drei Stunden den Flughafen Dresden, um gegen die beschlossene Abwicklung der Edelstahlwerke Freital zu demonstrieren. Die Treuhand hält trotz der Protestaktion und heftigen Widerstands der Regierung Biedenkopf an der Liquidation fest.

AUS DRESDEN DETLEF KRELL

Der Lufthansaflieger aus Bonn landet um 9.20 Uhr. Würden Bundestreuhandminister Waigel oder gar der Kanzler der Einheit der Maschine entsteigen, die gut 2.000 MetallerInnen aus einem Dutzend sächsischer Betriebe, die seit über zwei Stunden den Flughafen Dresden besetzen, nähmen die beiden herzlich gern in ihre Mitte. Aber ernstlich rechnet damit wohl niemand. Die Minimalforderung für heute ist, daß Ministerpräsident Kurt Biedenkopf mit ihnen bespricht, wie Verhandlungen mit der wortbrüchigen Treuhandanstalt und, wenn nötig, mit der Bundesregierung über die Zukunft des Freitaler Stahlwerkes erzwungen werden können.

Erst in der letzten Woche hatten Treuhand und Kabinett über das Edelstahlwerk diskutiert. Sachsens Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) erklärte danach, auf sein Drängen sei das Thema vorläufig von der Tagesordnung genommen worden. Das Kabinett verlange eine gründliche Prüfung der beiden vorliegenden Konzepte und gehe davon aus, daß der Standort erhalten werden könne. Am Montag nun empfahl die Treuhand dem Aufsichtsrat, das Werk doch zu schließen.

„Ich habe genauso eine Wut wie Sie!“ begrüßt Biedenkopf die Protestkundgebung. Kaum war die Nachricht in die Kabinettssitzung am Dienstag in Dresden eingeschlagen, hatte er sich auf den Weg nach Bonn gemacht, um „mit dem Kanzler Tacheles zu reden“. Kaum der Frühmaschine entstiegen, nennt er das Treuhandurteil eine „unerträgliche Entscheidung“, die „gekippt“ werden müsse. Er werde „nicht zulassen, daß wir ein Dreivierteljahr verhandeln, und dann zieht uns die Treuhand den Teppich unter den Füßen weg“. Die Treuhand sei unter diesen Bedingungen „kein akzeptabler Partner mehr“, sie habe eine Begründung für ihren Entschluß geliefert, die „eine Beleidigung für denkende Menschen“ sei.

Applaus in der Flughafenhalle. Aber die Stimmung ist gereizt. Aus dem Waggonbau Bautzen, dem Elektronikwerk Riesa, vom Mähdrescherwerk Singwitz und anderen Metallbetrieben sind sie gekommen. Manche hatten erst morgens im Betrieb von der Aktion erfahren und sich auf den Weg gemacht, um die KollegInnen zu unterstützen. Mit der Liquidation des Freitaler Stahlwerkes sei „die akute Bedrohung unserer Industriestandorte“ in ihrer letzten Phase angelangt, faßt IG-Metall-Sekretär Heribert Karch zusammen und gibt auch dem um die Sicherheit besorgten Flughafen-Geschäftsführer zu verstehen: „Wir sind nicht aus Jux hier. Und wir sind keine Randalierer Marke Rostock. Wir sind MetallerInnen, die arbeiten wollen!“ Stewardessen trösten die wütenden Reisenden und beraten am Telefon: „Das ist heute ein bißchen kompliziert, machen Sie das mal besser in Leipzig.“ Betriebsräte der angereisten Belegschaften schildern die Lage in ihren noch der Treuhand gehörenden Unternehmen; und es klingt, als ob immer vom gleichen Betrieb die Rede ist: rasanter Arbeitsplatzabbau, Bangen und Hoffen, Lichtblicke auf Sanierungskonzepte, dann das mehr oder weniger stille Aus.

Rolf Lindner, Betriebsrat bei der Verpackungsmaschinenbaufirma „Pactec“, berichtet, sein Betrieb könne sofort für 30 bis 40 Millionen Mark Maschinen in die GUS-Staaten liefern. „Dort werden diese Maschinen dringend gebraucht, für die Lebensmittelindustrie. Aus Hermes- Krediten wird nichts, aber Bonn läßt auch nicht erkennen, daß sie andere Wege sucht.“ Mehr als 3.000 Beschäftigte hatte der Betrieb, jetzt sind es 600, bis Jahresende nur noch 300. „Gestern war ein direkter Konkurrent aus Italien im Haus“, erregt sich Lindner, „der sah sich sofort in der Forschung und im Vertrieb um, fragte nach der Tonnage und anderen Details und war wieder weg. Sag mal: Stellt ein potentieller Investor etwa solche Fragen? Oder ist das Industriespionage?“ Für die Runde der KollegInnen ist die Antwort klar. In die GUS könnte auch das Mähdrescherwerk Singwitz/Neustadt liefern. Der ostsächsische Betrieb hatte früher die Sowjetunion mit Mähdreschern versorgt. „Heute stehen die Maschinen kaputt neben den Feldern, die Ernte verkommt, und wir arbeiten kurz“, beschreibt ein Kollege die absurde Lage. „Wenn man der GUS helfen will, muß das Bonn direkt finanzieren.“ Für Elektronik Riesa, „den letzten großen Betrieb, den wir dort haben“, plane die Treuhand erstmals sogar eine Gesamtvollstreckung, informiert dessen Betriebsrat. „Da geht von heute auf morgen die Tür zu.“

Spätestens seit die Freitaler StahlwerkerInnen gehört haben, daß Wirtschaftsminister Schommer zur Stahlkonferenz vergangene Woche in Düsseldorf gar nicht erst eingeladen wurde, ist für sie die Sache klar: „Die westdeutschen Stahlindustriellen wollen keinen Konkurrenten im Osten.“ IG-Metall-Bezirksleiter Hasso Düvel spricht ihnen aus dem Herzen: „Sobald wettbewerbsfähige Konkurrenz entsteht, wird die Marktwirtschaft durch interne Absprachen außer Kraft gesetzt!“ Er fordert eine „sächsische Stahllösung für die nächsten Jahre“ unter finanzieller Beteiligung der Regierung und führt die Beispiele Salzgitter und VW an. Für Betriebsratsvize Jürgen Leibiger steht außer Frage, daß Freital auf dem Markt zumindest Chancen hätte, wenn man den Betrieb nur ließe. „Hätte sich die Landesregierung nicht so engagiert, wir wären längst weg vom Fenster.“ Unverständlich sei ihm, daß der Vorstand des bedrohten Betriebes sich heute nicht zu den Protestierenden stelle.

Kurt Biedenkopf sagt den MetallerInnen zu, im Verwaltungsrat der Treuhand, der am Freitag in Berlin zusammenkommt, alles zu versuchen, das Urteil zu kippen. Er hoffe auf die anderen Ost-Ministerpräsidenten und auf die Gewerkschafter in diesem Gremium. Der Treuhand wirft er die Verwendung „manipulierter Zahlen“ vor. Abgesprochen sei, daß die Anstalt zu dem Topf für die Sanierung ihrer Betriebe die für eine Liquidation veranschlagten Kosten beitrage. „Anders lassen sich industrielle Kernbereiche nicht mehr erhalten“, stellt der CDU-Politiker klar. Statt dessen würden dem Land zusätzliche Kosten als Vorbedingung einer Sanierung untergejubelt. „Jeder weiß, wie unser Haushalt aussieht und daß wir noch lange auf Finanztransfers aus dem Westen angewiesen sind.“ Er selbst werde gegenüber Kohl klarstellen, daß es nicht akzeptabel sei, „den Schwarzen Peter hin und her zu schieben, obwohl das Geld immer aus der gleichen Kasse kommt“. Gelinge es nicht, das Stahlwerk zu retten, „sind wir nächste Woche in Bonn“. Diese Einladung klingt gut an so einem Morgen, der nach den vielen Betriebsbesetzungen im Frühjahr und Sommer wohl das Herbstkapitel gewerkschaftlichen Protestes eröffnet. Die MetallerInnen erkennen ihren Ministerpräsidenten kaum wieder. „Wir haben heute Erklärungen unserer Regierung gehört, die waren vor einem Vierteljahr noch undenkbar“, freut sich ein Gewerkschafter. „Kein Wunder“, brummelt ein älterer Arbeiter hinterher. „Wenn hier nichts mehr läuft, kann doch der Biedenkopf in Sachsen keinen Blumentopf mehr gewinnen.“