Für Vögel, Liebende und gedemütigte Bürger

■ Sollen die Delmenhorster Rathausarkaden wiederaufgebaut werden, wenn die Industriedenkmäler weiter verfallen?

Das alte Delmenhorster Rathaus, wie es noch einen Arkadengang hatteF.: Archiv

Einst lag inmitten von Delmenhorst ein stiller Hof unter Bäumen. Abgeschirmt von einer hohen Mauer und von einem Arkadengang waren hier die Vögel und die Liebenden unter sich. Wie ein Versprechen standen die abschirmenden Arkaden am Rathausplatz. Hinter ihnen wartete die Ruhe im Zentrum der Stadt.

Doch die moderne Zeit duldete den Ort der Besinnung nicht. 1955 wurden die Arkaden abgerissen. Sie standen - so hieß es

hier Rathaus mit Bogengang

wendenden Bussen im Weg. Ein schlichtes Soldatendenkmal, von Niemandem mehr beachtet, blieb zurück.

Die Delmenhorster haben das Verschwinden der innerstädtischen Idylle nicht verwunden. Sobald man sie nach den Bausünden der Vergangenheit fragt, übersehen sie geflissentlich den Karstadt-Klotz oder das gedankenlos in die Altstadt gesetzte „City-Center“. Stets nennen Delmenhorster den Abriss der Rat

haus-Arkaden: diese Untat war ein Angriff auf ihre bürgerliche Identität.

Seit zwei Jahren nun fordert eine Initiative den Wiederaufbau der Arkaden. Schon hat es Untersuchungen über die Kosten (500'000 DM), Abstimmungen im Kulturausschuß und Diskussionsrunden in der Volkshochschule gegeben.

Doch den lokalen Politikern scheint das Thema nicht zu behagen. Man solle das Geld sinnvoller einsetzen als in den Wiederaufbau eines funktionslosen Arkadenganges. Undenkbar scheint es in einer Industriestadt, in der Kunst und Kultur stets mit Skepsis betrachtet werden, daß allein für den schönen Schein, für ein funktionsloses Bauwerk eine halbe Million Mark ausgegeben werden könnten.

Doch den Delmenhorstern, die den Wiederaufbau fordern, geht es nicht um die Wiederherstellung eines Kunstwerks, ihnen geht es um nichts weniger als um die Rekonstruktion ihrer stadtbürgerlichen Identität.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte Delmenhorst einen beispiellosen Aufstieg erlebt. Die Textilindustrie boomte. Arbeiter kamen vor allem aus dem östlichen Europa, um in Delmenhorst Beschäftigung zu finden. Die Größe der Stadt fand Ausdruck im neuen Rathaus, 1909 bis 1925 vom Bremer Architekten Stoffregen errichtet - samt 42 Meter hohem Wasserturm, samt Markthalle, Arkadengang und Soldatendenkmal. Das Rathaus geriet zum Monument des industriell geprägten Bürgertums.

Gerade nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg herrschte Bedarf an Bauten, anhand derer sich das angekratzte Selbstverständnis wieder aufrichten ließ. Die Architektur von Markthalle, Arkadengang (1919) und vom benachbart liegenden Soldatendenkmal (1925) zeigte den Delmenhorstern, daß das Tief des Krieges überwunden sei.

Damals waren sie nicht zu unrecht davon überzeugt, daß Rathaus und Arkaden ein weithin einmaliges innerstädtisches Ensemble bilden. Voller Stolz glaubten sie, daß Delmenhorst bald zu den schönsten und gleichzeitig modernsten Städten des norddeutschen Landes gehören würde.

Der Abriß der Arkaden und die Öffnung des Platzes haben die Basis eines erst jungen Delmenhorster Selbstbewußtseins ins Rutschen gebracht. Der böse (und falsche) Vorwurf, Delmenhorst sei eine häßliche Industriestadt, konnte fortan wieder voller Häme vorgebracht werden. Die Forderung, die Arkaden wiederaufzubauen, ist der sentimentale Versuch, die Zerstörungen der letzten Jahrzehnte rückgängig zu machen, der Versuch, die Vergangenheit zu retten.

Während die Delmenhorster noch an einem imaginären Bauwerk festhalten, verschwinden in der Stadt Jahr für Jahr wichtige Zeugen der industriellen Geschichte. Die Liste der Abrisse ist lang. Doch noch immer prägen die Bauwerke der Industrie, die Hallen der Linoleumwerke und die kleinen Arbeiterhäuser, das Bild der Stadt. In Delmenhorst kann man die Industriealisierung, die um 1900 ihren Höhepunkt erreichte, wie kaum anderswo am Stadtbild ablesen.

Die Fragmente der gründerzeitlichen Industrie scheinen vielen Delmenhorstern jedoch eigenartig fern. Daß zahlreiche Städter Nachkommen von Gastarbeitern sind, die in den Textilfabriken ihr Geld verdient haben, daß die alten Industrien die eigentliche Ursache ihrer Anwesenheit sind, wird oftmals mehr verdrängt, als begriffen. Statt dessen konzentriert sich das stadtbürgerliche Interesse auf das sehenswerte Rathaus im allgemeinen und auf die verschwundenen Arkaden im besonderen. Der Wiederaufbau der Arkaden und die Wiederherstellung des klosterähnlichen Hofes wäre ein liebenswertes Unterfangen. Doch solange die Industriebauwerke am Rande der Stadt weiter verkommen, wäre der Wiederaufbau eine Ersatzhandlung.

Nils Aschenbeck