Mit eiserner Disziplin für ein Leben ohne Drogen

■ »Synanon« in Kreuzberg: ein erfolgreiches, aber nicht unumstrittenes Projekt/ Gemeinschaft und Disziplin als Entzugsrezept/ »Keine Drogen, keine Gewalt, keine Zigaretten«/ Die Aufnahme erfolgt zu jeder Tages- und Nachtzeit

Kreuzberg. Im Raum herrscht Stille. Männer und Frauen in blauen Overalls sitzen regungslos an dunklen, zum Essen gedeckten Tischen. »Guten Appetit«, sagt dann eine Stimme mit ruhigem, aber bestimmtem Ton, und sofort bricht Geschäftigkeit aus. Mittagspause für die Arbeiter von Synanon, einer Lebensgemeinschaft von Suchtkranken, die sich entschlossen haben, ein Leben ohne Drogen zu führen.

Alles hat seine Ordnung unter den »Synanisten«, wie sie sich selbst nennen. Michael ist seit zwei Jahren dabei. Er war, wie alle anderen, die hier arbeiten, drogensüchtig. »Wir sind hier streng hierarchisch strukturiert«, betont er. Darum hätten die »alten Hasen« auch denen etwas zu sagen, die erst vor kurzem gekommen seien. Zur Regulierung dieser Machtstrukturen diene ein allabendlicher Gesprächskreis, bei dem die Beteiligten alle Schwierigkeiten besprechen könnten.

Disziplin und Gemeinschaft, so heißt bei Synanon das Rezept zum Entzug. Eine ärztlich geleitete Therapie hat hier niemand zu erwarten. Drei Prinzipien vor allem würden hochgehalten, sagt Michael: keine Drogen, keine Gewalt und keine Zigaretten. Die Maximen sind so drastisch wie ihre Durchsetzung.

Die Aufnahme in das Haus erfolgt zu jeder Tages- und Nachtzeit, die Aufenthaltsdauer bleibt jedem freigestellt. Wer bleibt, hat die Chance, erst einmal Ruhe zu finden. Zeit, um neue Entschlüsse zu fassen. Wer sich entschieden hat, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und ein neues zu beginnen, findet Unterstützung bei mehr als hundert Gleichgesinnten, die im Synanon-eigenen Haus in der Bernburger Straße in Kreuzberg untergebracht sind. Etwa tausend Drogenabhängige versuchen es Jahr für Jahr mit Synanon. Doch viele bleiben nur einige Stunden, Tage oder Wochen und ziehen dann wieder unverrichteter Dinge von dannen. Andererseits wollen viele, die erst einmal Fuß gefaßt haben, auch nach Jahren nicht mehr weggehen.

»Zu Beginn ist es für viele sehr hart, aber wir halten es für die beste Methode, sich von der Abhängigkeit zu befreien«, sagt Michael. Er weiß, wovon er spricht. Auch er hat hier die ersten zwei Wochen ohne seine persönlichen Gegenstände verbracht, seine Kleidung abgeben und statt dessen blaue Overalls anziehen müssen. Über jeden Neuankömmling wird außerdem ein halbjähriges Kontaktverbot zur Außenwelt verhängt, das auch für Familienangehörige und Lebenspartner gilt.

Alle, die arbeiten können, bekommen bei Synanon einen Job. Arbeit gibt es genug in dem vereinseigenen Verlag, in der Spedition, in der Verwaltung oder auch in der Hausküche. Der Lohn fließt in die Gemeinschaftskasse, auf persönliche Bereicherung wird zugunsten der Gruppe verzichtet.

Die Ochsentour des asketischen Daseins

Synanon versucht, sich so weit wie möglich selbst zu finanzieren. Das gelingt allerdings nur teilweise. Bislang bleiben öffentliche Gelder unverzichtbarer Bestandteil der jährlichen Kalkulationen. Die Bundesregierung trägt 25Prozent des Haushaltes, weitere 30Prozent fließen ihm durch Bußgelder zu, die Synanon von den Gerichten zugesprochen werden.

Obwohl die Anti-Drogen-Einrichtung einige Erfolge aufzuweisen hat, sind die Ansichten über die Methoden von Synanon durchaus kontrovers. Denn keine Statistik kann Genaues darüber aussagen, wie viele Entzugswillige die Ochsentour des asketischen Daseins der Synanisten abgeschreckt hat. Zudem erscheinen Befürchtungen berechtigt, durch diese Art von Befreiung könnte die Persönlichkeit der Betroffenen auf der Strecke bleiben — auch wenn der Brauch am Mittagstisch eher an Landschulheim als an Gruppenzwang erinnert. Marc Brundelius/epd