Durch eine ölige Röhre rutschen

Pornographie oder Erotik? Der Roman „Vox“ von Nicholson Baker  ■ Von Heide Soltau

Ein Mann mit Bademantel und Gummilatschen — eine wenig erregende Vorstellung. Daß dieser Typ, der an Schießer-Feinripp und schlecht gelüftete Neubauwohnungen denken läßt, dennoch zu einem erotischen Virtuosen mutiert, ist das Verdienst des amerikanischen Schriftstellers Nicholson Baker.

Anlaß der wundersamen Wandlung ist natürlich eine Frau. Bakers Kunstgriff: Es ist eine unbekannte, unsichtbare Frau, eine, mit der Jim bloß telefonisch verbunden ist. Keine, die ihn nur bedient, nein, Abby will selbst auf ihre Kosten kommen. Der Mann und die Frau, die sich nicht kennen, sie im Osten und er im Westen wohnend, sind keine Profis, die mit Telefonsex ihr Geld verdienen. Sie haben die Nummer einer Party-Line angewählt und müssen für das Gespräch fünfundneunzig Cents die halbe Minute bezahlen. Abby und Jim sind dem süffisanten Werbespot in einer Sexpostille erlegen: „Jederzeit. Mach's, dann kommt's.“

Das tut es, und zwar heftig. In der „Hoffnung auf Glück“ entlockt einer dem anderen frivole Gedanken und geheimste Phantasien und verführt ihn dazu, heiße Geschichten zu erzählen. Bis beide am Ende des Romans, nach 180 Seiten, was etwa einem dreistündigen Telefongespräch entspricht, gleichermaßen zum Höhepunkt kommen.

Nicholson Baker entfacht ein verbal-erotisches Feuerwerk, das niemanden unbeteiligt läßt und vermutlich schon etlichen Lesern und Leserinnen zu einem vergnüglichen Abend verholfen hat. Weshalb sich empfiehlt, das Buch nicht auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn zu lesen. Doch wo immer Lust im Spiel ist, nicht nur intellektuelle Leselust, stellt sich natürlich die Frage, ob das denn Pornographie ist, was uns der 35jährige Baker mit „Vox“ präsentiert (der mit seinem Vollbart übrigens wie ein jüngerer Bruder Salman Rushdies aussieht und mit Frau und Tochter in New York lebt).

Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften hält sich an folgende Definition: „Pornographisch i.S. von §184 StGB und §6 Nr.2 GJS ist eine Darstellung, wenn sie unter Hintansetzung sonstiger menschlicher Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher, anreißerischer Weise in den Vordergrund rückt und wenn ihre objektive Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf Anreizung des Sexualtriebes abzielt.“

Das ist, die PorNo-Debatte hat es gezeigt, eine umstrittene, weil schwammige Definition. Danach könnte „Vox“ durchaus auf den Index kommen, schließlich geht es darin ausschließlich um das eine: Abby und Jim wollen einander Lust bereiten. Deshalb telefonieren sie, allein deshalb. Auch wenn es dabei nicht nur um „den Akt“ im engeren Sinne geht und die beiden durchaus mit Niveau zu plaudern wissen — „die Philosophie im Boudoir“ hat immerhin Tradition. Doch alles, was sie sich am Telefon erzählen, hat lediglich die Funktion einer erotischen Ranke, ist Teil des Vorspiels.

Wir erfahren von ihnen gerade mal die Namen und kennen am Ende zwar die Farbe ihrer Unterhosen und ihre sexuellen Phantasien, wissen aber nicht, was sie im Leben tun — wenn sie nicht gerade masturbieren. Zudem ist Baker ein Mann und maßt sich an, über Frauenlüste ebenso Bescheid zu wissen wie über die seiner Geschlechtsgenossen. Das alles scheint gegen Nicholson Baker zu sprechen. Zwar hat Simone de Beauvoir einst mit ihrer Schrift „Soll man de Sade verbrennen?“ die umstrittenen Bücher des Marquis verteidigt. Aber eine Feministin vom Kaliber einer Andrea Dworkin würde die literarischen Schweinereien des Amerikaners wohl verbrennen.

Doch ist „Vox“ mehr und keinesfalls nur eine Wichsvorlage, auch wenn der Roman natürlich so benutzt werden kann. Aber das gilt bekanntlich auch für griechische Statuen oder Gemälde von Tizian. Was Baker zwischen den beiden Unbekannten inszeniert, ist ein erotischer Dialog, bei dem alles, aber auch alles eine sexuelle Bedeutung erhält: eine silberne Gabel ebenso wie die Erde im Blumentopf, eine beigefarbene Strumpfhose oder die klirrenden Eiswürfel in einem Glas... Diesen Effekt erzielt er durch seine penibel-genauen Beschreibungen. Baker ist ein literarischer Pedant. Das hat er schon mit seinem ersten Roman „Rolltreppe oder Die Herkunft der Dinge“ bewiesen. Mit der gleichen, fast zwanghaften Genauigkeit, mit der er sich dort, in einer drei Seiten langen Fußnote (!), über zu leichte Strohhalme und die Unmöglichkeit, freihändig aus einer Coladose zu trinken, ausläßt, beschreibt er in „Vox“ die erotischen Phantasien und Träume. Mit diesem Trick verwandelt er jede Straßenlaterne und jeden Strohhalm in ein erotisches Accessoire.

Es sind keine spektakulären Phantasien, die Baker Jim und Abby andichtet, sondern normale, lächerlich banale Durchschnittsträume von Busen und Hüften, engen Röhren und streichelnden Händen, die erst durch die Detailverliebtheit des Autors ihren erotischen Kick bekommen.

Das beginnt schon auf der ersten Seite, als Abby Jim erklärt, wie ihre Bettdecke aus Chenille aussieht: „Es hat so kleine Büschel, mit konventionellen Mustern. Wie in einer Frühstückspension.“ Eine schlichte Beschreibung, die erst durch Jims Kommentar mehrdeutig wird: „Oh oh oh, Büschelmuster. Da bin ich aber beruhigt.“ Worauf Abby nicht etwa auf das von Jim so betonte Büschelmuster reagiert, sondern schlicht fragt, warum ihn das beruhige. Es folgt eine von Abby erzählte Geschichte über hartnäckige Flecke in Seidenslips. Oder wenn Baker Jim an die winzige Fee Klingklang in Walt Disneys Film „Peter Pan“ denken läßt, die „ganz kleine Brüste, aber ganz breite Hüften und breite kleine Schenkel“ hat und ihren Umfang so unterschätzt, daß sie beim Versuch, durchs Schlüsselloch zu fliehen, mit ihren Hüften stecken bleibt. Was Abby an den Marilyn- Monroe-Film „Blondinen bevorzugt“ erinnert und sie an eine Phantasie denken läßt, die sie als Zwölfjährige manchmal hatte: durch eine ölige Röhre zu rutschen, während zwei Hände über ihren Körper glitschen.

Nicholson Baker schafft es, die Lust, die sich Abby und Jim mit ihren detailreichen Geschichten bereiten, auch seinen Lesern zu vermitteln, obwohl in dem Buch nichts passiert. Es geht ausschließlich um Phantasien und um Bilder. Was wirklich geschieht, wissen wir ebensowenig wie der Mann und die Frau, die sich nie gesehen haben und nicht wissen, wie der andere am anderen Ende der Leitung eigentlich aussieht.

Nicholson Baker inszeniert ein erotisches Wort-Spiel, das nur zu zweit, sprechend, im Dialog funktioniert. Das ist das Geheimnis des Romans. Weshalb sich das Buch auch hervorragend zum Vorlesen eignet. Der Übersetzer Eike Schönfeld hat ihn mit Witz und Einfallsreichtum ins Deutsche übertragen, so daß niemand fürchten muß, beim Vorlesen über Unaussprechlichkeiten zu stolpern. Der Verlag schließlich hat dem Roman das passende Outfit verpaßt: einen weißen Einband mit silbernen und schwarzen Buchstaben. Daß hinter der unschuldigen Fassade mehr steckt, zeigt sich erst, wenn man in das Geschehen eintritt und das Buch aufschlägt: es ist neonrot gefüttert und hat ein schwarzes Lesebändchen.

Nichsolson Baker: „Vox. Roman“. Deutsch von Eike Schönfeld, Rowohlt, 1992, 190 Seiten, 28DM.