: Slavenka Drakulic: Wie wir die Freiheit gegen Schuhe eintauschten
■ Oder warum Triest an allem schuld ist
Gestern war ich in Triest. Natürlich mußte ich erst die neue slowenische Grenze überschreiten, aber diese Tatsache regte mich weniger auf als die Nähe der italienischen. In meinem Bewußtsein ist Slowenien wohl noch immer, wenn auch nicht mehr meins, so doch kein fremdes, feindliches Land. Ich erinnere mich genau. Das letzte Mal stand ich am selben Grenzübergang bei Kozina vor drei Sommern in einer unendlichen Kolonne von Autos aus Zagreb, Belgrad, Nis, Skopje, Sarajevo. Unter dem erhitzten Blech des Autodachs erfaßte mich das bekannte leichte Zittern und das unangenehme Gefühl in der Magengrube, an dem jeder richtige „Jugo“ litt, wenn er sich der italienischen Grenze näherte. Es war die Angst, daß der Zöllner die geschmuggelten, auf dem Schwarzmarkt gekauften Lire oder auch die Dinare aufspürt, die die Triester Händler oder die Devisenhändler auf der Straße bald zu einem ungünstigen Kurs in Lire eintauschen würden.
Wo haben wir sie nicht überall versteckt! In den Schuhen, im Büstenhalter, im Gürtel, unter dem Autositz, in einer zusammengefalteten Tageszeitung, in der Tasche unserer alten Oma, die wir nur für diese Gelegenheit zum Besuch nicht existierender Verwandter mitnahmen. Die Zöllner fragten, wohin man gehe, als ob sie es nicht gewußt hätten. Und wir antworteten: zum Verwandtenbesuch, uns ebenfalls verrückt stellend. Wir logen auf natürliche Weise, so wie es für den Menschen natürlich ist, daß er atmet. Wir waren schuldig, immer hatten wir von irgend etwas zuviel, und deshalb schwiegen wir und ließen uns von den Zöllnern anfahren, die mit allen per du waren, wobei wir hofften, daß sie es nur nicht finden, was immer es auch war. Aber wir wußten ihnen auch zuvorzukommen. Einige Kilometer vor der Grenze, schon bei Basovizza, fuhren wir das Auto an die Straßenseite und fingen an, die Sachen umzupacken. Genauso parkten auch ganze Busse mit Passagieren. Die Zöllner hatten Weisung, ein Auge zuzudrücken, das war möglich. Manchmal waren wir dennoch allzu gierig. Wir kauften einige Paar Schuhe (du kannst sie nicht alle auf einmal anziehen und dann vor den Zöllner so tun, als ob sie getragen wären, und dennoch, das Risiko lohnt sich, denn man fährt ja nicht alle Tage nach Triest), einige Pullover, Kleider, Unterwäsche, Kosmetik, Küchengeschirr, Konserven mit geschälten Tomaten, Parmesan, Olivenöl, das „Vergine“... und erst Orangen, Zitronen und Bananen, diesen unerreichbaren Traum des Sozialismus oder Kommunismus, egal!
Warum ist bei den Italienern wenn schon nicht alles besser, dann doch schöner — wiederholten wir in unserem Inneren, während wir von der Hitze ausgezehrt an den Ständen des Ponte Rosso (eine Art Flohmarkt im Herzen Triests) unsere letzten Lire statt für ein Getränk in einem Café für Dummheiten ausgaben, für Strümpfe, die später Farbe ließen, oder ein Nachttischlämpchen in Form einer venezianischen Gondel. In den Straßen im Zentrum, der Via Carducci, der Via Mazzini, der Via Dante, der Via XXX Ottobre, war nur serbokroatisch oder kroatoserbisch, wie diese Sprache damals offiziell hieß, zu hören, und in der ganzen Stadt hinterließen wir erkennbare „Zeichen“ — Müll, fettiges Papier, Ränder des von zu Hause mitgebrachten Brotes (um ja nicht zufällig die teuren Devisen für ein Sandwich ausgeben zu müssen), Bierflaschen, die Pelle billiger Salami. Aber die Triester ertrugen unsere Invasion ruhig, betrachteten uns mit Verachtung hinter den geschlossenen Jalousien ihrer Wohnungen und kauften an Tagen ein, an denen es kein Gedränge gab. So mußte es sein, sie lebten von Milliarden und Milliarden Lire, die wir daließen, zusammen mit dem Müll versteht sich.
Aber es gibt eine Sache, die mich noch heutzutage verblüfft: der Kampf um den Kaffee. Es ist mir nicht klar, warum wir nur derart immense Mengen Kaffee über die Grenze geschleppt haben, gerösteten und ungerösteten, gemahlenen und ungemahlenen, billigen und teuren, schlechten und guten — als hinge unser Leben davon ab. Warum waren wir seinetwegen imstande, uns mit den Zöllnern zu streiten, Verschwörungen mit den Nachbarn einzugehen, auf dem Schwarzmarkt zu kaufen (wie oft fanden wir statt der Kaffeebohnen Maiskörner in den Tüten), alte Bekanntschaften im Ausland zu erneuern, die Händler in der Nachbarschaft zu bestechen? Es gab in diesem Kampf um Kaffee, in dem der Staat einen ständigen Mangel produzierte und danach die Preise astronomisch erhöhte, die Leute dazu trieb, zuerst in Schlangen zu warten und dann Vorräte anzuhäufen— es gab in diesem Kampf noch etwas außer der Tatsache, daß sogar für uns, uns arme Jugos, der Kaffee in Triest billiger war als in unserem Land. Wir konnten nicht erlauben, daß uns der Staat erpreßt, daß er unsere Lieblingsgewohnheit in Frage stellt. Vielleicht hätten wir auf größere Dinge, wie zum Beispiel die Demokratie, verzichten können, aber auf den Kaffee niemals. Dafür waren wir bereit zu betrügen, zu lügen und zu kriechen...
Und heute, wenn ich die Augen schließe, scheint mir, daß ich diese riesigen Berge Kaffee wie auf brasilianischen Plantagen sehe — Tausende von Waggons, Tüten, Tütchen, auf die wir partout nicht verzichteten. Neben ihnen ist billige Trikotage aufgehäuft, falsche Lacostes und Benettons, ein Meer von Jeans und Schuhen, und dort, ganz am Rand des apokalyptischen Bilds der Sehnsucht, leuchten gelb die Zitronen und Bananen, an denen wir uns niemals, auch nicht in der Demokratie, satt essen werden. Diese Warenberge, diese bunten Perlen, mit denen uns der Staat kaufte, damit wir ruhig und unterwürfig leben sollten, im billigen Schein der Freiheit, grinsen uns jetzt wie Geister der Vergangenheit an.
Im August 1992 gibt es an der slowenisch-italienischen Grenze kein Gedränge, sowohl die slowenischen als auch die italienischen Zöllner sind freundlich, in Triest finde ich gleich einen Parkplatz, und in den Läden im Zentrum gibt es überhaupt kein Gedränge, mehr noch, sie sind fast leer. Auf den Straßen werde ich nicht mehr von Devisenhändlern am Arm gezogen. Wie erraten sie nur, daß wir Jugos sind — dachten wir damals, von ihrer unfehlbaren Intuition genervt. Heute weiß ich, daß sie uns am Blick erkannt haben. Der hungrige Blick, der in den Schaufenstern von Gegenstand zu Gegenstand sprang, war für sie Zeichen genug. Auch solide Italienischkenntnisse konnten die Kluft zwischen den zwei Welten, die in ihm zum Ausdruck kam, nicht überbrücken. Als ich in einer halbleeren Trattoria direkt auf dem Ponte Rosso saß, dachte ich, daß Triest schließlich das ist, was es vor und nach der Invasion der Slawen war: ein langweiliges Provinzstädtchen an der Grenze Italiens. Der Kellner brachte mir Spaghetti Bolognese. Sie waren verkocht und die Soße dünn und fad, und mit dem ersten Bisssen kam wie bei Prousts mit Lindenblütentee befeuchteter Madeleine nicht die Erinnerung, sondern das klare Bild der Vergangenheit zum Vorschein. Im Teller mit den teigigen Spaghetti sah ich wie in einem Spiegel, daß Triest, der Ponte Rosso, der Platz, auf dem ich sitze, und dieses Essen im Teller vor mir der Schlüssel zum Verständnis von unserem Unglück, vielleicht sogar vom Krieg selbst ist. Ich spreche jetzt absichtlich über etwas anderes und nicht über die Seiten in diesem Krieg, über diese Art von Schuld. Ich spreche eigentlich über eine Art Mentalität, über die eigene Widerspiegelung im Spiegel, über eine traurige Metapher.
Gute zehn oder fünfzehn Jahre dauerte diese Betörung durch die Brosamen der Freiheit, dieses Aushandeln mit dem Staat, dieses Blindekuhspiel. Als hätten wir einen stillschweigenden Vertrag geschlossen und dem Gehorsam zugestimmt, wenn uns der Staat nur diese paar Reisen im Jahr sichert, für mehr war sowieso kein Geld da. Ich erinnere mich, daß der erste mit Italien verbundene Gegenstand in meinem Leben ein raschelnder Regenmantel war. Das muß etwa Mitte der fünfziger Jahre gewesen sein, als meine Mutter aus Italien (war das schon damals Triest?) einen hellblauen Regenmantel aus leichtem, dünnem Plastik mitbrachte. Weil man in einem Land, aus dem raschelnde Regenmäntel kommen, anders lebte, irgendwie besser und glanzvoller, hatte jeder „dort“ gekaufte Gegenstand „hier“ einen doppelten Wert: er enthielt eine zusätzliche, mythologische Bedeutung.
Doch in den fünfziger Jahren waren Reisen noch selten, fast ein Wunder. Später, in den sechziger Jahren, als es mehr Geld und Reisen gab, wurden Jeans zum Kultgegenstand. In den siebziger Jahren wurden das Schuhe, später Wasserhähne und Fliesen für das Bad. Für ein Paar italienische Schuhe waren wir imstande, einen Sonnenstich, Ohnmacht, Dehydration, Gedränge, Angst, bürokratische Schroffheit und den unangenehmen Zynismus der Verkäufer in Kauf zu nehmen, so wie das nur ein Mensch ertragen kann, der mit all dem auch in seinem eigenen Alltag zu leben gelernt hat. Paradoxerweise waren wir auch noch stolz darauf, nannten wir das Freiheit. Warum? Weil unser Staat im Unterschied zu den kommunistischen Staaten im Ostblock „gut“ und „gnädig“, „menschlich“ genug war, uns diese kleinen Konsumfreuden zu schenken, diese minimale Möglichkeit, anders zu werden. Konnten nicht gerade wir, die einzigen aus der sozialistischen Welt, frei in fast alle Länder reisen? Das heißt, wenn wir Geld hatten — aber das haben wir, fälschlicherweise übrigens, erst als zweitrangiges Problem verstanden. Wesentlich war die Möglichkeit selber. Aber die Möglichkeit wozu? Zum vorübergehenden Gucken in diese verdammte „Welt“, aus der wir für immer ausgeschlossen waren? Und so ist uns von der ganzen Welt eigentlich Triest übriggeblieben und von Triest der Markt Ponte Rosso mit einzig für unseren provinziellen Geschmack guter Ware.
Jahrelang lebten wir so mehr oder weniger zufrieden, ohne zu begreifen, daß wir auf der Ebene von Symbolen lebten, daß wir uns mit dem symbolischen Wert geschmuggelter Ware zufriedengaben, daß wir uns vom symbolischen Unterschied zwischen uns und den anderen nährten, wobei — und das ist das Interessanteste — die anderen ausschließlich die waren, denen es schlechter als uns ging: Polen, Tschechen, Bulgaren, Rumänen, Russen. Davon gab es immer genug, so daß diese Art Vergleich funktionieren konnte. Die anderen, mit denen wir uns vergleichen konnten, waren nie die, die besser lebten. Schon sehr früh haben wir gelernt, daß wir in einem anderen System lebten — das dort, bunt und anziehend, war eigentlich der barbarische Kapitalismus, die Konsumgesellschaft, eine Maschine, die den Menschen antreibt, ununterbrochen zu arbeiten und zu verdienen und dann zu konsumieren, zu konsumieren, zu konsumieren (und daß gerade das der Traum von Millionen war, interessierte die Regierung nicht allzusehr). Demokratie war zum Beispiel kein Modewort. Vergleichen konnte man sich also nur mit Ähnlichem, nicht aber mit Verschiedenem. Und bei diesem Vergleich kam Jugoslawien immer besser weg.
Wir mußten zufrieden sein. Was schlimmer ist: wir waren zufrieden, und darin liegt unsere Sünde, unsere gewaltige Sünde. Wir lebten die Illusion von der Freiheit, aber einer Freiheit nur im Rahmen der Welt, in der wir lebten, im Rahmen dessen, was wir als möglich verstanden. Gerade darin bestand das Wesen unserer Unfreiheit, in der Tatsache, daß wir nicht die Notwendigkeit spürten, außerhalb dieses vom Staat vorgegebenen Rahmens zu denken. Das Höchste, von dem wir träumen konnten, war der „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“.
Tja, daran glaubten wir, daran glaubten sogar die „Praxis“-Gruppe und die kroatischen Nationalisten 1971. Und trotz einer gewissen Dosis Pharisäertum, die zum Überleben in jedem sozialistischen Land notwendig ist, waren wir richtige Gläubige. Es handelte sich hier weder um den Glauben an den Erfolg eines sklerotischen Mastodons noch an Ideale. Mehr noch, mir kommt es ganz so vor, als hätte man das Konzept des „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ aus der durch den Zerfall des utopischen Ideals entstandenen Leere geschöpft. Früher hätte ich gesagt, daß es sich um den Glauben an die Unmöglichkeit der Veränderung handelte, die aus dem Mangel, aus der Aufhebung der Hoffnung erwächst.
Die Charakteristik des Sozialismus in Jugoslawien (weil Kommunismus auch kein populäres Wort war, wir waren schon seit 1948 etwas anders, wir bauten den Sozialismus auf, hatten Selbstverwaltung und Blockfreiheit — mein Gott, wie sind all diese Worte jetzt völlig ihrer Bedeutung entleert, wie alt, verstaubt, abgenutzt klingen sie, ist es denn möglich, daß sie noch bis vor kurzem unsere einzige Realität waren?) war eine unzulängliche Repression. Die Fähigkeit des Systems, oppositionelle Tendenzen an die einzige existierende Partei beziehungsweise den Bund der Kommunisten zu binden, verlieh der Repression Elasitizität und Weichheit, verhinderte aber gleichzeitig die Entstehung eines richtigen politischen Untergrundes. Dissidenten, die sich in langjähriger Tätigkeit außerhalb des Systems für Demokratie, Menschenrechte und eine zivile Gesellschaft eingesetzt hätten, brachte das System nicht oder in ungenügender Menge (außer Slowenien, das gewissermaßen ein Sonderfall ist) hervor. Und die, die nach 1989 an die Macht kamen, interessierte am meisten die Nation. Wir hatten institutionalisierte Intellektuelle und das Shopping in Triest, aber keine Solidarität, KOR oder Charta77 — das heißt, wir haben keinerlei solide Grundlage dafür aufgebaut, daß sich überhaupt irgend etwas anderes als dieser Schrecken jetzt ereignen konnte. Erst jetzt sieht man, daß wir Gläubige waren, die größten Gläubigen in der kommunistischen Welt. Gläubige, die auf billigen Schnickschnack aus waren, denn die Freiheit tauschten wir für ein Paar italienische Schuhe ein.
Während ich im August 1992 in der Trattoria in der hintersten italienischen Provinz, das heißt in Triest, sitze, aus einem zerfallenen Land im Krieg kommend, der schon ein Jahr dauert und dessen Ende nicht abzusehen ist, fällt mir die einfache Frage eines amerikanischen Freundes ein (sie sind Spezialisten für einfache Fragen). Wie ist es möglich, fragte er mich neulich, daß das Land, das am meisten prosperierte und am freiesten war und von dem man am ehesten erwarten konnte, daß es schnell und schmerzlos den Übergang zur Demokratie vollzieht, wie ist es also möglich, daß dort jetzt Krieg geführt wird?
Ich wünschte, ich könnte ihm eine präzisere und überzeugendere Antwort geben als die Metapher von der „Schuld“ Triests. Aber ich habe selber keine. Während ich auf die Grenze meiner Heimat zufahre, und sie heißt jetzt Kroatien und ist von Triest nicht sechs, sondern vierzig Kilometer entfernt, denke ich, daß nicht eines der Völker, das im ehemaligen Jugoslawien lebt, ein solches Schicksal verdient hat. Aber gleichzeitig kann ich ein Schuldgfühl nicht loswerden, das Gefühl, daß wir als Bürger nicht genug getan haben, um es zu vermeiden. Und deshalb ist Triest, der Ponte Rosso und der Glauben an die Unmöglichkeit der Veränderung des Systems der letzte mögliche Punkt unserer Gemeinsamkeit.
Und die Spaghetti? Die Spaghetti in Triest werden niemals mehr so gut schmecken wie vor zehn Jahren, wenn wir uns doch noch entschlossen hatten, die letzten paar Lire dafür auszugeben.
Übersetzung: Katharina Wolf- Grießhaber
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