Selbsterfahrung ohne Fahrrad

■ Das Velociped in der Literatur: Von einem Weltumrunder, einem monologisierenden Tourenstrampler und einem unermüdlichen Kämpfer fürs Hochrad

: Von einem Weltumrunder, einem monologisierenden Tourenstrampler und einem unermüdlichen Kämpfer fürs Hochrad

Vor 40 Jahren fuhr Heinz Helfgen um die Welt. Die Entscheidung für dieses Fortbewegungsmittel hatte er nicht aus sportlichen oder gar umweltfreundlichen Erwägungen getroffen, sondern weil er — arbeitslos und abenteuerlustig — schlicht kein Geld hatte. Tatsächlich war der radelnde Deutsche in den meisten Ländern eine Sensation und konnte seine über zweijährige Reise finanzieren, indem er seine Geschichte an Zeitungen verkaufte und Vorträge hielt.

Der tritt- und sattelfeste Mann aus Düsseldorf machte auf seine Art und Weise vor, daß die Deutschen schon wieder wer waren und registrierte mit großer Befriedigung die Achtung, die ihm so kurz nach dem Krieg vielerorts entgegengebracht wurde. Helfgens Reisebericht, eine Mischung aus stark zeitgeistig geprägter und gelegentlich naiver Weltbetrachtung und Karl- May-Abenteuern wurde in den 50ern ein Erfolg. Doch für die deutsche Wirtschaftswundergeneration war das Arme-Leute-Vehikel Fahrrad bald darauf kein Thema mehr, weder im Leben noch zwischen Buchdeckeln.

Geschichten wie Luigi Bartolinis „Fahrraddiebe“ aus dem Nachkriegsitalien, in der der fahrbare Untersatz ein unersetzliches Arbeitsmittel war und sein Diebstahl eine Katastrophe, gehörten in eine überwundene historische Phase. Und auch Alfred Andersch' Entwicklungsroman „Die Kirschen der Freiheit“ — eines der „wichtigsten und ehrlichsten Bücher der jungen deutschen Nachkriegsliteratur“, so die Kritik —, in dem dem Erzähler die Desertion von seiner Fahrradkompanie mit Hilfe einer absichtlich herbeigeführten Reifenpanne gelingt, ist in der Vergangenheit angesiedelt.

Autoren, die sich oder ihren Helden in den 70ern mit mittlerweile kritischem Blick für die vollmotorisierte Leistungsgesellschaft auf die Selbsterfahrungsreise schickten, wählten Füße und Bahn fürs Vorankommen. Michael Holzach etwa durchwanderte — bewußt ohne Geld in der Tasche — die Republik, neugierig darauf, wie es sich auf der Kehrseite eines Wohlstandslandes (über)leben läßt. Sten Nadolny spendierte in seinem Debut-Roman seinem Ich-Erzähler Ole Reuter eine Netzkarte der Bundesbahn, damit sich der 30jährige angehende Lehrer auf den Schienen zwischen Westerland und Konstanz seine Gedanken über alles und nichts machen konnte, auf der Flucht vor dem ungeliebten Beruf,

1auf der Suche nach mehr oder minder flüchtigen Abenteuern.

Mit dem Comeback des Fahrrads als Freizeit- und Alltagsgefährt seit etwa 15 Jahren wurde und wird eine Fülle von Sachbüchern, Ratgebern und Reiseführern auf den Markt geschwemmt. Die Suche nach einem literarischen Niederschlag dieser Entwicklung jedoch bleibt erfolglos. Antonio Skármetas Erzählung „Der Radfahrer vom San Cristóbal“ — ein junger Mann kämpft in einem Straßenrennen nicht nur um den Sieg, sondern symbolisch auch um das Leben seiner schwerkranken Mutter — thematisiert das alltägliche Ringen um Würde, die Auflehnung gegen Repression im Chile der 70er Jahre. Und Régine Deforges' in Frankreich angeblich überaus erfolgreicher Roman mit dem vielversprechenden Titel „Das blaue Fahrrad“ hinterläßt die Leserin verblüfft und enttäuscht: In dem bis ins Detail „Vom Winde verweht“ nachempfundenen, von Herz, Schmerz und Jungmädchen-Liebesleid triefenden Werk kommt dem namengebenden Gefährt keine größere Bedeutung zu.

Einzig in Uwe Dicks „Überle-

1bensprosa“ untertiteltem „Monolog eines Radfahrers“ könnte sich der moderne Radler wiederfinden — sofern es ihm gelingt, Zugang zu den über 30 Seiten ergossenen lautmalerischen Gedankenfetzen zu bekommen. Probe: „Autofahren. Gegen Dummheit kämpfen Götter vergebens. Und das hier ist produzierte Dummheit: Autohypnotische Autophilie, autistische Autobie, Autosuggestion bis zum Blackout — to-to-do, schaug hi!“ usw.

Bleibt der Griff zu einem Buch, dessen Veröffentlichung schon einige Jahre zurückliegt, und das im vorigen Jahrhundert angesiedelt ist: Uwe Timms „Der Mann auf dem Hochrad“. Diese wunderbare Erzählung bringt uns Franz Schröder nahe, der vor rund 100 Jahren in Coburg das Hochrad einführte, eine Lanze für das damals vielfach als gemeingefährlich und sittengefährdend verschriene Radfahren brach und schließlich mitansehen mußte, wie das viel massentauglichere, aber in seinen Augen zutiefst unästhetische und unsportliche Niederrad seinen Siegeszug antrat. Schröders Kampf um die neue Freiheit der individuellen Fortbewegung auf der „Sinnschärfungsma-

1schine“, um Bewegung und Veränderung („Das Instabile wird stabil nur durch Bewegung“) ist in bester Timmscher Manier in humorvolle Schilderungen des deutschen Provinz-Alltags eingebettet. Nicht nur für Radfans empfehlenswert! Claudia Hönck

Wir danken dem Buchladen in der Osterstraße für die freundliche Unterstützung.

Heinz Helfgen: Ich radle um die Welt, Bielefelder Verlagsanstalt, 29,80 DM.

Luigi Bartolini: Die Fahrraddiebe, Fischer, vergriffen.

Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit, Diogenes, 6,80 DM.

Michael Holzach: Deutschland umsonst, Ullstein, 9,80 DM.

Sten Nadolny: Netzkarte, Piper, 14,80 DM.

Antonio Skármeta: Der Radfahrer vom San Cristóbal (Erzählungen), Piper, 14,80 DM.

Régine Deforges: Das blaue Fahrrad, Bastei Lübbe, 9,80 DM.

Uwe Dick: Der Öd/Monolog eines Radfahrers/Cantus Firmus für Solisten mit Pferdefuß, Piper, 14,80 DM.

Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad, Kiepenheuer & Witsch, 12,80 DM.