: Ein Stuhl macht Geschichte
Der Freischwinger als Objekt der Begierde ■ Von Katrin Bettina Müller
Schwarzledern und chromglänzend turnt ein Zug aus Freischwinger-Stühlen durch eines der beiden berühmten Treppenhäuser im Bauhaus Dessau. Die nachgebauten Billig-Stühle spielen verquer zusammengeschraubt und ineinander verschoben Postmoderne und Dekonstruktivismus. Die Installation antwortet in ihrem Rhythmus und der durchlässigen Konstruktion wie ein Echo auf die gegliederte Transparenz der Treppen-Architektur. Sie signalisiert gleich zu Beginn der Ausstellung „Ein Stuhl macht Geschichte“, daß wir uns am Bauhaus Dessau nicht primär an einem Ort musealer Vermittlung des Vergangenen befinden, sondern in einem lebendigen Experimentierfeld. Um sich der mächtigen Aura des Bauwerks zu erwehren und die Verklärung eines Gebrauchsgegenstandes zum Kultobjekt kritisch zu hinterfragen, haben die Ausstellungsmacher die Möbel von ihren einsamen Sockeln gestoßen.
Ein zweibeiniges Wagnis
Denn die Geschichte des Freischwingers erzählt nicht nur vom ästhetischen Wagnis, sondern auch vom juristischen Streit und unternehmerischer Spekulation. Begonnen hat das Projekt „Ein Stuhl macht Geschichte“ mit einer mühevollen Grabungsarbeit in Firmenarchiven und Rechtsurkunden. Die beiden Kunsthistoriker Werner Möller (Kustos am Bauhaus Dessau) und Otakar Màcel trugen mit detektivischer Akribie die verstreuten Schnipsel zu dem Rechtsstreit um den hinterbeinlosen Stuhl zusammen, der in der Design- Geschichte als Inkunabel der Moderne ebenso berühmt wurde wie berüchtigt in der Geschichte des künstlerischen Urheberrechts. In dem ausführlichen Buch verfolgen die Autoren die Entwicklung des Freischwingers in Entwürfen, Plagiaten und Varianten von dem ersten, 1926 von Mart Stam aus Gasrohren zusammengeschraubten, Gestell bis zu den Serien der siebziger Jahre.
Die ersten Entwerfer der Stahlrohrmöbel waren alle zugleich Architekten: Mart Stam, Gerrit Rietveld, die Gebrüder Heinz und Bodo Rasch, Ludwig Mies van der Rohe und Marcel Breuer. Ihre Konzepte von den Aufgaben des Bauens und der Rolle der Architektur im Prozeß gesellschaftlicher Veränderungen lassen sich bis in ihre Möbel-Entwürfe hinein verfolgen. Schon auf der Stuttgarter Werkbundausstellung „Die Wohnung“ standen sich die ästhetisch geprägte Material- Ökonomie von Ludwig Mies van der Rohe, der mit den rundgeschwungenen Kufen seines Freischwingers eine tänzerische Chiffre in den Raum schrieb, und die Material-Askese von Mart Stam gegenüber, der sich am sozialen Existenzminimum orientieren wollte. Nachbauten seiner beiden schwarz gestrichenen Gestelle von 1927, für einen Stuhl mit durchgezogener Linie und eine zusammenschraubbare Version mit Armlehnen, empfangen den Besucher der Dessauer Ausstellungshalle — ohne Sitz- oder Rückenlehne — als pure Demonstrationsobjekte des geringen Material- und Produktionsaufwands.
Der niederländische Architekt Mart Stam, dessen radikale Position erst seit kurzem in der Architektur- Geschichte wieder Beachtung findet, suchte in Stadtplanung und Wohnungsbau nach Lösungen für die sozialen Bedürfnisse der Massen. 1928, nach seinen Reihenhäusern für die Weissenhofsiedlung, erhielt er den Auftrag für die Hellerhof-Siedlung in Frankfurt, die ihm endlich die praktische Ausformulierung seines menschlich gedachten Funktionalismus ermöglichte. Mit dem Frankfurter Stadtbaurat Ernst May zog er 1930 für vier Jahre als Städteplaner in die Sowjetunion. Zuvor hatte er seine grundsätzlichen Forderungen in der Zeitschrift Das neue Frankfurt veröffentlicht: „Keiner von uns ist ganz von dem befreit, was unseren Eltern und Großeltern im Blut saß, der Repräsentation. Und Repräsentation ist kein Menschenmaß, es ist Übermaß... Und Übermaß zeugt von Gewissenlosigkeit, von unsozialer Lebenshaltung, besonders in einer Zeit, in der von vielen Tausenden der arbeitenden Bevölkerung das Minimum an Wohn- und Lebensansprüchen unbefriedigt bleibt. So ist der Kampf der modernen Architektur ein Kampf gegen Repräsentation, gegen Übermaß und für das Menschenmaß.“ Über die ethische Kategorie hinaus verband das freikragende Konstruktionsprinzip und die konturierende Umschreibung des Raumes seine Architektur mit dem Freischwinger: Schon 1924/25 hatte er in der Beschäftigung mit El Lissitzkys Wolkenbügel-Projekt ein von fragilen Stützen emporgestemmtes Gebäude geplant.
Doch Stam gab nicht nur einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung der Stahlrohrmöbel, mit denen sich Marcel Breuer am Bauhaus schon in einem Möbelprogramm beschäftigte, sondern er lieferte zugleich einen Zankapfel der Design-Geschichte. In ihr spielt der Unternehmer Anton Lorenz eine schillernde Rolle: Er erkannte frühzeitig die kommerzielle Verwertbarkeit von Urheber- und Patentrechten. Auf seine Veranlassung beantragte Stam das Urheberrecht, dessen Schutz erst im Jahre 2056, siebzig Jahre nach seinem Tod, erlischt. Es ist die Ironie der Design-Geschichte, daß gerade Stam, der den Status des Künstlers verändern und ihn in die soziale Verantwortung nehmen wollte, zum erstenmal das künstlerische Urheberrecht für einen Gebrauchsgegenstand beanspruchte und damit eine Flut von Prozessen auslöste.
Anton Lorenz, Händler mit Patenten und Rechten und Makler zwischen Entwerfern und Produzenten, strickte ein geschicktes Netz geschützter Konstruktionen, in dessen Maschen sich nicht nur Ludwig Mies van der Rohe, der für seinen Stuhl ein Patent als technische Erfindung erhalten hatte, und Marcel Breuer verfingen. In einer Zeit, in der der technische Gegenstand als Ready-Made Eingang in den Bereich der Kunst fand, wurde der Freischwinger zu einem Objekt, dessen Status als technische oder künstlerische Erfindung juristisch immer wieder neu zur Klärung anstand und Generationen von Gutachtern beschäftigte. Die Variationen der nachkommenden Entwerfer dienten oft dem Zweck, die geschützten Formen zu umgehen und trotzdem den begehrten Freischwinger produzieren zu können. In den Prozessen um unerlaubte Nachahmungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern wurden selbst nachträglich Erfinder aus dem Ärmel geschüttelt: So präsentierte die Firma Mauser 1937 in ihrer Verteidigung gegen eine Klage von Thonet den Kölner Werklehrer Joseph Stüttgen, der angeblich schon 1924 beim Stahlbiegen zufällig einen Kragstuhl geschaffen habe.
In der langwierigen und oft überraschenden Geschichte um die ökonomische Vorrangstellung auf dem Freischwinger-Markt geriet Mart Stam nach dem Zweiten Weltkrieg fast in Vergessenheit. Als 1973 zwei hinterbeinlose Stühle der Firma Thonet, die auf seine Entwürfe zurückgingen, den Bundespreis „Gute Form“ erhielten — über vier Jahrzehnte nach ihrer ersten Vorstellung —, galt der Architekt, der zurückgezogen in der Schweiz lebte, als verstorben. Der übermächtige Mythos des Bauhaus drohte seinen Anteil am Design der Avantgarde zu verwischen.
Tanz der Stühle
Zusammen mit dem Ausstellungsarchitekten Mark Mer und einer Gruppe von Studenten der TU Graz richtete Werner Möller die Ausstellung „Ein Stuhl macht Geschichte“ ein. Das im Buch abgespeicherte Wissen bildete den Hintergrund, um nun befreit von der Aufgabe didaktischer Vermittlung mit dem Material, den Stühlen frei umzugehen. So entstanden fünf ausdrucksvolle Stuhlgruppen, in denen sich die Protagonisten der modernen Stuhlgeschichte und früheren Rivalen spannungsreich gegenüberstehen. Viele der Exponate glänzen nicht in musealer Sterilität, sondern erweisen sich als abgenutzt: Gerade die Spuren des Sitzens bestätigen das Vertrauen in ihre sitztechnische Qualität. Lichtbilder von Stadtplänen, Grundrissen und Bauten der Architekten schaffen ein Netz visueller Verbindungslinien und inhaltlicher Brücken. Dazwischen laden Nachbauten der Möbelklassiker zu Sitzproben ein.
Wie ein Kinder-Karussell wirkt eine Gruppe der niedrigen „beugelstoelen“ von Gerrit Rietveld (1927/28), der das Thema Stahlrohr in seinem Kampf gegen den konventionellen Zargenstuhl mit skulpturalen Ansätzen verband: Vierfüßige Rohrgestelle aus weichen, organischen Linien tragen durchgehend gebogene, farbige Sperrholzplatten, die Sitz und Lehne bilden. Einem Blitz aus vier trapezförmigen Flächen gleicht sein „zig-zag-stoel“. Den Gestaltungsprinzipien der Künstlergruppe „de-Stijl“ folgt eine Stuhl-Skulptur aus rechtwinkligen Flächen, die den Sitzenden umschließen. Eine Seitenlehne dient waagerecht gekippt als Tischplatte. Der Sessel beansprucht trotz der Einfachheit seiner Materialien einen eigenen Platz, schneidet einen privaten Ort aus dem Raum heraus.
Diesem Ausdruck betonter Individualität gegenüber ziehen die Freischwinger Stams in einer strengen, minimalistischen Parade dahin, angeführt von einem wiederentdeckten Prototypen, der 1929 auf der „Der Stuhl“-Ausstellung in Frankfurt in einer Reihe mit Rietvelds „beugelstoel“, einem Freischwinger von Mies van der Rohe und dem „B5“ genannten vierbeinigen Stahlrohrstuhl von Marcel Breuer stand. Die Projektion eines Rasterbildes von Piet Mondrian auf die monotone Stuhlkette ist eine Erinnerung an den Zeitgeist, der Kunst und Möbelgestaltung aus den gleichen Quellen der Reduktion und Systematisierung speiste. Selbst auf den Schwung der Stahlrohrlinie, die Mies van der Rohe so erregte, verzichtete Stam und zerlegte sie in verschraubbare Elemente zugunsten einer kostengünstigeren seriellen Produktion, Verpackung und Transport.
Der Gestalter Marcel Breuer wird mit dem Wassily-Sessel identifiziert. Eine Anzahl umgekippter Sessel bildet eine Wassily-Wand, in der sich die Maßstäblichkeit und Raumaufteilung der Bauhaus-Architektur wiederholt. Hinter diesem Spiel verbirgt sich eine Anekdote: In hohem Alter behauptete Breuer, das Prinzip des Freischwingers früher als Stam gefunden zu haben; wenn man seine Hocker seitlich kippe, verkörperten sie die Idee des hinterbeinlosen Stuhls.
Den Gebrüdern Rasch, die sich 1928 in ihrem Buch „Der Stuhl“ durch ihre Untersuchungen zur Anatomie und die Ableitungen ihrer Konstruktionen aus der organischen Beweglichkeit des Menschen auszeichneten, ist eine Sitzgruppe unterschiedlichster Elemente gewidmet, in der es nicht um Prinzipien, sondern um Vielfalt geht. Ein einfaches Stuhlmodell demonstriert die Stabilität von konvex und konkav gebogenen Sperrholzflächen. Aus schwarzem Bugholz ist der vornehme „Sitzgeiststuhl“ entstanden, dessen anthropomorphe Formen Kniekehlen und Rücken umschmeicheln. Daneben steht ein Klappstuhl-Veteran aus Latten, im Neigungswinkel von Sitz und Rücken bequemer als die heute üblichen Folterstühle. Eine behäbige Freischwinger-Version verbindet den Fuß aus Stahlrohr mit einem Holzrahmen für die geflochtene Lehne und den Sitz. Selbst ein sprödes Schreckgebilde mit Plexiglassitz und einem Fuß aus dreikantigem Rohr geht auf ihre Anregung zurück. Dazwischen illustriert ein Entwurf für eine Hängekonstruktion von runden gläsernen Fassaden, daß die Brüder auch in der Architektur utopische Ansätze verfolgten.
Die Sitzlust kitzeln geradezu die neun Freischwinger von Mies van der Rohe, deren Exklusivität in einem gläsernen Modell seiner offenen Grundrisse betont wird. Ledergepolstert oder mit Kuhfell bespannt, mit dem musikalischen Schwung der Doppelkufen, die Sitz und Armlehnen ausbilden oder einer farbigen Fassung der schmalen Stahlbänder, die das Rohr ersetzen, wollen die Stühle ihre Verwandtschaft mit der klassischen Linie der Schönheit nicht verleugnen. Sitzen wird zum menschlichen Luxus.
„Ein Stuhl macht Geschichte“. Vortrag im Forum fnac, Meineckstraße 23, 1000 Berlin 15, Mittwoch, 23.September, 17Uhr.
Ausstellung im Bauhaus Dessau noch bis 25.Oktober.
Dann im Vitra Design Museum, Weil am Rhein 6.November 1992 bis 28.März 1993.
Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 16.April 1993 bis 13.Juni 1993.
Das gleichnamige Buch von Werner Möller und Otakar Màcel ist bei Prestel erschienen und kostet in der Ausstellung 48DM, gebunden im Buchhandel 78DM.
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