INTERVIEW
: Technokratische Entgleisung

■ Für den Gaullisten Philippe Seguin ist das Nein zu Maastricht eine klare Sache

Philippe Seguin (49) hat sich als einer der vehementesten Gegner von Maastricht in Frankreich einen Namen gemacht. Als Mitglieder der konservativen Oppositionspartei RPR sorgen er und sein älterer Parteifreund Charles Pasqua für innerparteiliche Spannungen, denn RPR- Chef Chirac wirbt für Maastricht. In seiner Kampagne beruft sich der Parlamentarier stets auf de Gaulle, der die Bedeutung der Nation und der nationalen Souveränität betont hatte. Von 1986 bis 1988 war Seguin Sozialminister.

taz: Warum wollen so viele Franzosen beim Referendum über Maastricht mit Nein stimmen?

Philippe Seguin: Das Referendum bietet ihnen die Möglichkeit, ihren Überdruß angesichts der Entgleisung des gesamten politischen Systems auszudrücken. Die Franzosen haben den Eindruck, daß ihre gewählten Vertreter immer weniger Einfluß nehmen auf die Probleme, die sie betreffen, ja daß sie sogar machtlos sind. Das habe ich auch aus dem Fernsehauftritt von Mitterrand behalten: sein Eingeständnis, daß er in Sachen Landwirtschaft, in Sachen Mittel- und Osteuropa machtlos ist. Viele Franzosen glauben, daß die Art und Weise, wie Europa jetzt geschaffen werden soll, die Karikatur eines wünschenswerten Einigungsprozesses darstellt. Diese technokratische Entgleisung lehnen sie ab.

In Ihrer Annonce in deutschen und englischen Zeitungen hieß es: „Ganz Frankreich wartet seit über 40 Jahren auf die Konstruktion Europas“. Was heißt das?

Die Bedeutung der jetzigen Debatte in Frankreich liegt darin, daß sie zum ersten Mal aufdeckt, worin das wirkliche Ziel liegt. Seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sind die Dinge nicht mehr auf den Tisch gekommen. Seither war die Strategie der Konstruktion Europas: Wir haben eine Etappe genommen. Dann heißt es, sie macht die nächste Etappe unumgänglich. Der Präsident hat uns jetzt wieder gesagt, Maastricht sei dazu da, die Fehler der Einheitlichen Europäischen Akte zu korrigieren, von der es vorher hieß, sie sei sehr gut. So geht es voran, von Stufe zu Stufe, ohne daß wir wissen, wohin das führt. Jetzt sind die Dinge etwas klarer, das gesetzte Ziel — auch wenn das Wort im Vertrag nicht auftaucht — heißt: wir gehen auf einen föderalen, multinationalen Staat zu.

Ich habe eine andere Vision der Konstruktion Europas, die auf der Kooperation, der Verständigung der Staaten basiert. Staaten, die ihre Kompetenzen delegieren, gewisse Zwänge akzeptieren, ihre Souveränität jedoch behalten. Ich will einen neuen Vertrag, der die Entgleisungen der europäischen Konstruktion korrigiert, der auch eine Reihe von neuen Problemen behandelt, die sich Europa heute stellen, und die im Vertrag von Maastricht vernachlässigt werden. Wie können die technokratischen Auswüchse gestoppt werden? Indem die Kompetenzen der Kommission neu definiert werden, indem eine wirkliche Gewaltenteilung zwischen der Gemeinschaft, den Mitgliedsstaaten definiert wird und nicht nur dieses Prinzip der „Subsidiarität“, das völlig lächerlich ist, so wie es der Vertrag definiert. Ich wünsche, daß im Rahmen der Charta der UNO für den gesamten Kontinent ein Sicherheitssystem eingerichtet wird, um innereuropäische Konflikte zu regeln und ihnen vorzubeugen. Ich wünsche mir die schnelle Einrichtung einer hohen Autorität in Sachen Umweltschutz, um den ökologischen Katastrophen im Osten begegnen zu können, ich wünsche einen Zeitplan von 10 bis 15 Jahren zum Beitritt der ost- und mitteleuropäischen Staaten zum gemeinsamen Markt, der das Ziel haben sollte, den gesamten Kontinent zu umfassen.

Heute leben die Nationalismen in Europa, auch in Deutschland, wieder auf. Befürchten Sie nicht, daß ein Nein diese Entwicklung noch verstärken könnte?

Nein, gar nicht. Zunächst einmal, weil dieser Nationalismus die perverse Entwicklung eines an und für sich nicht schlechten Gefühls ist, das ich als nationales Faktum bezeichnen würde. Ich denke vielmehr, wenn dieses Faktum nicht anerkannt ist, daß es dann die Gefahr solcher Nationalismen gibt. In Ostdeutschland handelt es sich ja nicht so sehr um Nationalismus als um Rassismus. Wo kommen die Spannungen her? Die Gründe dafür liegen doch in den Fehlern, die die deutsche Regierung bei der Wiedervereinigung gemacht hat. Ich bin fassungslos über die Bedingungen, unter denen die deutsche Wiedervereinigung vollzogen wurde, und besorgt über die wirtschaflichen, sozialen, moralischen Folgen, die diese Politik für breite Teile der deutschen Bevölkerung hat. Hieraus kann für ganz Europa eine Gefahr entstehen. Ich sage das ganz bewußt. Die Entscheidung aller Regierungen der Gemeinschaft, an der fixen Währungsparität festzuhalten, hat zu einer wahnwitzigen Situation geführt. Wir haben heute in Frankreich Zinssätze, die unsere Wirtschaft gefährden. Die rassistischen Bewegungen sind Folgen der wirtschaftlichen und sozialen Lage.

Was den Rest von Europa angeht, so ist es nicht anormal, daß eine Reihe von Nationen, die sich jahrelang nicht frei äußern konnten, heute diesen Wunsch haben. Gewiß muß darüber gewacht werden, daß das friedlich passiert. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, daß der Vertrag von Maastricht für dieses Problem positive Antworten bietet. Er hätte im absolut gleichen Wortlaut zu Zeiten der begrenzten Souveränität in Osteuropa verfaßt worden sein können, zu Zeiten von Breschnew. Der Vertrag ignoriert völlig, was sich unterdessen in Mittel- und Osteuropa zugetragen hat. Der Slogan „Maastricht bedeutet Frieden“ bezieht sich wohl nur auf Westeuropa, wo der Frieden nicht bedroht ist.

Welche Konsequenzen hätte ein Sieg des Neins für die deutsch-französischen Beziehungen?

Ich glaube, die Deutschen wären beruhigt, daß diejenigen gesiegt hätten, die im Gegensatz zu den Befürwortern des Ja in ihrer Kampagne nicht an unwürdige Phantasmen und alte Ängste appelliert haben, sondern Deutschland für ein großes demokratisches und befreundetes Land halten. Bei allem Respekt für Deutschland: das System, das uns jetzt vorgeschlagen wird, hätte den Effekt, daß wir nach und nach die deutsche Art, sich zu entwickeln, annehmen würden. Das halte ich nicht für wünschenswert. Das deutsche Volk hat sein Genie und wir das unsere. Das deutsche Volk ist an Föderalismus gewöhnt und praktiziert ihn, in unserer Geschichte gibt es keinen Föderalismus. Das deutsche Volk ist an andere Verhältnisse in seinen Unternehmen gewöhnt als wir. Das deutsche Volk ist für die Unabhängigkeit einer Zentralbank, wir sind aus Gründen unserer Geschichte dazu nicht bereit. Ich denke, Deutschland sollte sich entwickeln mit seinen Mitteln, Gewohnheiten, Konzeptionen, und für uns sollte dasselbe gelten. Man kann befreundet und trotzdem verschieden sein. Und man kann miteinander konkurrieren, wenn man verschieden ist. Ich würde sogar sagen: wenn man sich gleicht, ist keine Konkurrenz mehr möglich.

Sind die Franzosen gut informiert, wenn sie am Sonntag zur Wahl gehen? Stimmen sie dann wirklich über den Einigungsvertrag ab?

Die Frage kann man sich tatsächlich stellen, und damit wird ja auch oft gegen das Referendum argumentiert. Aber wird etwa die Wahl zwischen Bush und Clinton nur rational entschieden? Die Franzosen werden sich in erster Linie aufgrund dessen entscheiden, was sie dem Vertrag gegenüber empfinden. Jetzt ist es unsere Aufgabe, ihnen täglich und kontradiktorisch klarzumachen, was darin steht. Es ist die erste große politische Debatte in diesem Land seit langem. Die Franzosen sind äußerst interessiert, sie zeigen ein ganz neues Interesse an der Politik.

Interview: Bettina Kaps, Paris