Seltsame Dinge geschehen in Italien

Langgesuchte Mafiosi sind auf einmal leicht zu greifen oder bringen sich gegenseitig um — und langjährige Antikorruptions-Kämpfer werden ausgeschaltet/ Prominentestes Opfer: Wahlrechtsreformer Mario Segni und Jesuit Pintacuda  ■ Aus Rom Werner Raith

„Wer hätte das gedacht“, schwärmt Enzo Biagi, hochgeschätzter Kommentator des Corriere della sera: „Auf einmal gehen langgesuchte Mafiosi reihenweise ins Netz, kümmert sich die Polizei wirklich um den Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Beginnt eine neue Epoche für Italien?“

Tatsächlich scheinen die Erfolge der italienischen Ordnungskräfte innerhalb von nur zwei Wochen geradezu einsame Höhepunkt erreicht zu haben. Gefangen wurden: am 31.August einer der gefürchtetsten Chefs der kalabresischen „'Ndragheta“, Saro Mammoliti; am 6.September Giuseppe Madonia, der als Nummer zwei der sizilianischen Cosa-Nostra-Spitze eingestuft wird; am 11.September der als unumschränkter Herrscher der größten neapolitanischen Camorra-Organisation geführte Carmine Alfieri — der Jahresumsatz seiner illegalen und legalen Geschäfte in aller Welt soll bei umgerechnet zwei Milliarden DM liegen. Fast gleichzeitig erwischten die Polizisten Francesco Cannizzaro, rechte Hand des seit zehn Jahren flüchtigen Bosses Nitto Santapaola aus Catania. In Bayern wurde am selben Tag Antonio Riezzo festgesetzt, der zur Führung der apulischen Sacra corona unita gehört. Am 12.September wiesen die venezuelanischen Behörden die drei Brüder Cutrera nach Italien aus, denen ein weltweiter Umsatz von zwei bis drei Milliarden Dollar durch Kokain- und Waffengeschäfte nachgesagt wird.

Umgekehrt scheint der Mafia und Camorra kaum mehr etwas zu glücken: Die Geschäfte auf Sizilien und in Neapel sind durch die massive Anwesenheit von Polizisten oder Soldaten fast zum Erliegen gekommen, berichten Aussteiger. Am Montag ging ein Anschlag auf einen Polizeiinspektor in Mazzara del Valle daneben, weil sich dieser aus dem Auto fallen ließ, das Feuer erwiderte und dann ins Meer sprang.

Und wo Polizisten nicht zugreifen, fallen reihenweise Gangster den Kugeln von Rivalen zum Opfer. Sogar der reichste Mann Siziliens, Ignazio Salvo, fiel gestern nacht unter Mafia-Kugeln. Er war schon vom 1982 ermordeten Präfekten Dalla Chiesa als „Transmissionsriemen zwischen Mafia und Politik“ bezeichnet, bisher aber nur zu bescheidenen drei Jahren verurteilt worden.

Bei genauerem Hinsehen reduzieren sich die spektakulären Antimafia-Aktionen allerdings beträchtlich. Übrigens wurden auch nach der Ermordung Dalla Chiesas ähnliche Erfolgsserien präsentiert, die aber keineswegs eine wirkliche Schwächung der gerade „amtierenden“ Mafia zur Folge hatten.

Die Brüder Cutrera zum Beispiel wurden nicht aufgrund italienischer Ermittlertätigkeit gegriffen, sondern weil die USA Venezuela mit einem Militärschlag drohten, wenn die Koka-Brüder nicht sofort ausgewiesen würden. Nur mit Mühe konnte dann der Haftrichter im römischen Gefängnis Rebibbia von der Beweislage gegen zwei der drei mutmaßlichen Kokain-Könige überzeugt und Aufrechterhaltung der Haft veranlaßt werden. Die Festnahme der „Nummer zwei“ der sizilianischen Mafia, Giuseppe Madonia — als geradezu sherlockholmsche Puzzlearbeit gefeiert — erweist sich immer mehr als Schmierentheater: Der Mann hatte offenbar bereits seine Fühler ausgestreckt, ob ihn die Justiz nicht als „Kronzeugen“ haben möchte. Außerdem ist seine Stellung in der Cosa Nostra 2 höchst unklar: Bereits in den siebziger Jahren trug er den Spitznamen „der Schwätzer“ — nicht gerade wahrscheinlich, daß sich die zugeknöpfte, von der Verschwiegenheit geradezu lebende Mafia einen solchen Mann an der Spitze leistet.

Höher anzusetzen ist sicherlich die Festnahme Alfieris und Riezzos: Die beiden sind wohl tatsächlich gefährliche Oberbosse; doch sie gehören nicht zur Mafia, sondern dem neapolitanischen beziehungsweise apulischen Gangstertum an, das seit jeher leichter zu greifen war. Bei diesen Organisationen handelt es sich um weniger festgefügte und meist nicht einmal — wie bei der Mafia — von Blutsverwandtschaft und strengen Zutrittsregeln geprägte Gruppen. Daß die Fänge gelangen, gilt unter Experten allerdings bereits als Zeichen, daß die beiden syndikatsintern fallengelassen wurden.

Immerhin reichen die Erfolge derzeit aus, der Öffentlichkeit den Ernst der Politiker im Kampf gegen das Böse zu beweisen. Um so unbemerkter vollzieht sich parallel dazu eine Entwicklung, die zu massiver Besorgnis Anlaß gibt. Ob gesteuert oder nicht, sie ist der Herrscherkaste höchst willkommen: die zügige Ausschaltung von Personen, die sich in den vergangenen Jahren besonders stark gegen den Verfall der politischen Sitten, gegen die Mafia und gegen den Einzug des Dunkelmännertums in den Staat engagiert hatten.

So beschloß zum Beispiel die Fraktion der Christdemokraten (DC), ihren populärsten Verfassungsreformer, Mario Sengi, nicht in die wichtigste Kommission des Parlaments zu entsenden — jene eben zur Verfassungsreform, dem angeblichen „Hauptanliegen“ der laufenden Legislaturperiode. Segni hatte 1990 das Referendum eingeleitet, mit dem erstmals die Bildung der — für Gruppen wie die Mafia politisch enorm wichtigen — Seilschaften auf Wahllisten verhindert wurden. Anstelle von Segni sitzt nun der von seinem eigenen ehemals linken Flügel längst verlassene und selbst in kräftige Abstaub-Affären verwickelte DC-Präsident De Mita dem Reform- Gremium des Abgeordnetenhauses vor. Und er streitet bereits in bewährter Manier mit allen anderen, was auf eine Verschiebung der Reform auf St. Nimmerlein hindeutet.

Anfang dieser Woche setzte dann die — derzeit oppositionelle — industrienahe Republikanische Partei zu einem merkwürdigen Manöver an: Ausgerechnet der ehemalige Chefankläger im „Maxi-Prozeß“, Giuseppe Ayala, gerade für den PRI ins Parlament gewählt, begann mit einer heftigen Demontage Leoluca Orlandos, des 1991 vom DC-Dunkelmann Andreotti abgehalfterten Antimafia-Bürgermeisters von Palermo. Ayala zog die von Orlando diverse Male aufgestellte Behauptung, es gäbe eine Unterdrückung von Beweisen bezüglich der Kungelei zwischen Mafia und Politik, so massiv in Zweifel, daß die Mafia dies ohne weiteres als Freigabe zum Abschuß ihres Erzfeindes verstehen könnte.

Bisher letzter Höhepunkt der Ausschaltung moralischer und politischer Erneuerer: Pater Ennio Pintacuda, Jesuit und einer der Vorkämpfer der Antimafia-Bewegung, wurde durch Weisung seiner Oberen aus der Dozentenschaft des palermitanischen Politinstituts „Pedro Arrupe“ gefeuert — Zeichen einer Wiederannäherung der „Societas Jesu“ an den Papst. Der war schon immer für die Reduzierung des Kampfes gegen die Mafia auf allerkleinste Flamme. Pintacudas Entlassung lag dem Vatikan schon seit langem am Herzen. Denn die von ihm geforderte rücksichtslose Reinigung der Politik von Korruptionsanfälligkeit war Rom stets suspekt, gerieten bei solchen Aktionen doch stets auch kirchennahe Personen und Einrichtungen ins Zwielicht. Etwa das vatikanische Bankinstitut IOR, das lange vorwiegend mit mafiosen Geldern gearbeitet hatte — und dessen Einnahmen, vor allem aus Südamerika, schon wieder in den Verdacht geraten, mit den illegalen Einnahmen großer Kartelle der Kokainmafia durchmischt zu sein.