Maastricht-Vertrag: Der Unvollendete

■ Das Dokument, das Europa zur politischen Union zusammenführen soll, muß an vielen Stellen ergänzt werden/ Auch die klar geregelte Wirtschafts- und Währungsunion ist keineswegs gesichert

Eines hat er nirgendwo in Europa ausgelöst, der Vertrag von Maastricht: Begeisterung. „Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem vereinten Europa“, sagte Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Unterzeichnung des „Vertrages über die Europäische Union“. Das war so ziemlich die gefühlvollste Positivreaktion, die das umfangreiche Dokument von 72 Seiten mit seinen 17 Protokollen und 33 Erklärungen auszulösen vermochte. Im Dezember waren die Regierungschefs der zwölf EG-Länder in die kleine südholländische Stadt mit dem überdimensionierten Konferenzzentrum geflogen, um die Wirtschaftsgemeinschaft in eine politische Union mit einheitlicher Währung umzugestalten. 1957, mit den Römischen Verträgen, waren die Zollunion und — auf ihrer Basis — der EG-Binnenmarkt geschaffen worden, der ab 1. Januar 1993 in Kraft treten wird — unabhängig von den nationalen Ratifizierungen des Maastricht-Vertrags.

Kernstück des Maastricht-Vertrages ist die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die bis 1999 mit einer gemeinsamen Europawährung verwirklicht werden soll. Über die Stabilität der neuen Währung soll eine Europäische Zentralbank wachen.

Die WWU kommt allerdings nur zustande, wenn mindestens sieben Länder folgende Stabilitätskriterien erfüllen: Die Neuverschuldung des Staatshaushalts muß unter drei Prozent liegen, die Gesamtverschuldung muß unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bleiben (das BIP ist der Wert aller im Inland geschaffenen Waren und Dienstleistungen). Darüber hinaus darf die Inflationsrate nicht mehr als 1,5 Prozent und der Leitzins nicht mehr als 3 Prozent über dem Durchschnitt der drei stabilsten Länder liegen. Wenn bis 1996 nicht sieben EG-Länder diese Kriterien erfüllen, dürfen sich zwei Jahre später auch weniger Staaten zur WWU zusammenschließen. Nach heutigem Stand der Dinge könnten das nur Frankreich, Luxemburg und Dänemark.

Außer den klaren Regeln für die WWU ist der Maastricht-Vertrag in vielen Bereichen unvollendet. So fehlt de facto die zur WWU gehörige Sozialunion. Über gemeinsame Arbeitnehmerrechte und Arbeitsbedingungen soll der Ministerrat erst in diesem Jahr entscheiden.

Kritisiert wird von den linken und bürgerlichen GegnerInnen das Demokratiedefizit der Verträge. Die nationalen Parlamente geben Macht in den Bereichen Außen-, Innen- und Asylpolitik an Europa ab — aber nicht an das Europaparlament (EP), sondern den Ministerrat. Das Europaparlament muß weiter auf ein Initiativrecht verzichten. In der Außen-, Innen- und Asylpolitik besteht lediglich ein Unterrichtungsrecht für das EP. Mitreden darf das EP bei der Bestellung der EG-Kommissare, außerdem bei Fragen des Binnenmarktes, des Umwelt- und Verbraucherschutzes. Diese Bereiche allerdings sind im Binnenmarkt ohnehin bereits geregelt worden.

Die bisherige Abstimmung in der Außenpolitik wird durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ersetzt. Die Leitlinien muß der Ministerrat einstimmig beschließen, die folgenden Aktionen können jedoch eingeleitet werden, wenn zwei Drittel der zuständigen Minister zustimmen: KSZE-Prozeß, Abrüstung, Kontrolle von Waffenexporten und Nichtverbreitung von Atomwaffen.

Erstmals formuliert die EG das Ziel einer gemeinsamen eigenständigen Verteidigungspolitik mit der Westeuropäischen Union (WEU) als ausführendem Organ. Die EG-Verteidigungspolitik darf aber der Nato nicht zuwiderlaufen. Nach Maastricht soll es in der EG eine gemeinsame Visumpolitik geben. Der Kernpunkt Asyl- und Einwanderungspolitik bleibt jedoch auf der unverbindlichen Ebene der gemeinsamen Abstimmung zwischen den Regierungen. Verbraucherschutz-, Industriepolitik und Kultur gelten als gemeinsame Aufgaben, nicht aber die Energiepolitik.

Neu geschaffen wird ebenfalls eine europäische Staatsbürgerschaft, die allen EG-BürgerInnen in jedem Mitgliedsstaat bei Kommunalwahlen das aktive und passive Wahlrecht zugesteht. Donata Riedel