Hommage an einen Grenzgänger

Eine Veranstaltung im Literaturhaus widmete sich Leben und Werk von  ■ Michel Leiris

Die offizielle Welt besteht aus einem Koordinatensystem von Regeln, welche die Wahrnehmungen der subjektiven Welt in verfälschende Raster pressen. Diese Erkenntnis hat Leben und Werk des französischen Schriftstellers und Ethnologen Michel Leiris (1901-1990) entscheidend geprägt. Schreibend unternahm er eine endlos kreisende Suche nach der eigenen Biographie, außerhalb der Konvention des Ausdrucks und herkömmlicher autobiographischer Konzeptionen.

Schon in seinem ersten Buch, Phantom Afrika (1934), das er während einer zweijährigen Afrika-Expedition schrieb, steht immer das eigene Ich in der Begegnung mit der fremden Kultur im Mittelpunkt. In tagebuchartigen Aufzeichnungen schildert er Faszination und erotische Verführungskraft, die auf ihn von den Ritualen, aber auch von den Menschen der afrikanischen Stämme ausgehen.

„Leidenschaften“ hieß die Veranstaltung am Freitagabend im Literaturhaus, in der Hans Jürgen Heinrichs, deutscher Leiris-Herausgeber, Einblick geben wollte in das Leben und das Werk des Michel Leiris. So wie sich darin „viele der entscheidenden Traditionen widerspiegeln und ein komplexes Porträt der Moderne zeichnen, so soll auch dieser Abend mit ganz unterschiedlichen Mitteln - Prosa und Lyrik, Film und Musik, Malerei und Ritual - ein Panorama des Zeitgenössischen, des 'Archaischen' und des 'Fortschrittlichen' gestalten“, stand in der Ankündigung. Ganz so aufregend wurde es dann aber nicht, denn „Film und Musik, Malerei und Ritual“ kamen vom Video- Bildschirm, „Prosa und Lyrik“ - in einer Lesung von Martin Wuttke - blieben exemplarische Einsprengsel zum Vortrag Heinrichs.

Der Überblick, den dieser Abend gab, machte trotzdem neugierig. Leiris gehörte zum Kreis der Surrealisten um Breton, war befreundet mit Bataille, Artaud und Sartre. Er suchte die europäische Magie im Geheimnis des Traums und des Unbewußten, im Transvestitismus und in nicht normierter Sexualität, im politischen Aktionismus genauso wie im schriftstellerischen Grenzgang mit dem Unsagbaren. So groß jedoch Leiris' Bedeutung für die moderne Literatur geworden ist, die Ethnologie hat bis heute kaum Kenntnis von ihm genommen. Dorothea Schüler