: Wenn einer keine Reise macht ...
■ FC St. Pauli: 1:3 Auswärtsschlappe beim Chemnitzer FC / 2000 Fans feierten Radio-Paadie im Wilhelm-Koch-Stadion
: 1:3 Auswärtsschlappe beim Chemnitzer FC / 2000 Fans feierten Radio-Paadie im Wilhelm-Koch-Stadion
Wilhelm-Koch-Stadion:
2000 waren in das Stadion gekommen, um ein Ereignis kollektiv und akustisch zu begleiten, das 500 Kilometer entfernt, im Sportforum Chemnitz stattfand. Im Real-Austragungsort der Begegnung des Chemnitzer FC gegen St. Pauli, trafen sich auch nur eben mal gut die doppelte Anzahl von Fans. Leute, deren Bekanntschaft die Millerntor-Fans nicht machen wollten. Sie präferierten, um den zu erwartenden Angriffen radikalisierter Ex-Karl-Marx-Städter zu entgehen, die Radio-Paadie in heimischen Gefilden. Entscheidend für die Paadie- Stimmung der Fans waren hier einzig die Tore. Weder die Sprüche der Moderatoren, die zudem noch sehr zerknautscht an die Ohren der Gäste drangen, noch das milde Klima hatten große Relevanz.
Freude kam also erst nach der 44. Spielminute auf, als Leonardo Manzi mit seinem 1:1 Ausgleichstreffer wieder alles möglich machte. Hoffnungsvolle Freude, die die Getreuen der Lorkowski-Elf zehnmal länger auskosten konnten, als ihre Leidensgenossen am Vorabend im Volksparkstadion. Acht Minuten vor Spielende nämlich war wieder einmal ein Spiel vergeigt.
Echte Trauer und wirkliche Reflektionsversuche fanden jedoch erst um viertel nach fünf statt, nachdem die Paadie vorbei war. Zu diesem Zeitpunkt trennten sich nämlich die, die das Wilhelm-Koch- Stadion nur besuchen, von der Basis. Jenen Fans, die dort leben.
Die, die nicht nach hause gehen können ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, das Resultat zu kaschieren. Mit Logik: „Wenn wir Schulte wiederhätten, wären wir in ein paar Monaten wieder ganz, ganz oben. Das is' mal klar.“ Oder mit Fatalismus: „Haben wir nun 4:1 oder 3:1 vergeigt?" Der von „Der Welt“ attestierte „Imageverlust der Stadt Hamburg“, hervorgerufen durch die Krise der Hanseatischen Fußballclubs, jeden
1falls war hier allen erfrischend egal. Ein Zug, mit dem sich auch die Fans der Elberstligisten solidarisieren können.
Chemnitzer Sportforum:
Anderer Ort, fast gleiche Handlung: „Beide Mannschaften haben eine Stunde lang schlecht gespielt“, resümierte ein leicht angeschlagener St. Pauli-Coach Michael Lorkowski das Spiel. Bezeichnend für das Niveau dieser Begegnung war, daß alle Treffer von Patzern des Gegners begünstigt wurden.
Beim 1:0 fälschte Olck einen Schuß von Neuhäuser so unglück
1lich ab, daß der Ball CFC-Stürmer Boer genau auf den Kopf fiel. Der bedankte sich völlig freistehend mit seinem zweiten Saisontor (39.). Beim Ausgleich durch Manzi (44.) gab CFC-Torhüter Schmidt die nötige Hilfestellung, als er bei einem Eckball daneben griff. Der munteren Fehlerproduktion setzte St. Paulis Libero Surmann dann die Krone auf. Bei einem Gewühl im Strafraum schnappte er seinem Keeper Thomforde das Leder vor den auffangbereiten Händen weg und legte es Neuhäuser so gekonnt vor, daß der gar nicht anders
1konnte als zur 3:1-Entscheidung zu vollenden (83.). Eine Minute vorher hatte Zweigler mit einem unhaltbaren Schuß in den Winkel für die erneute Chemnitzer Führung gesorgt.
Angesichts dieser Szenen stand Lorkowski die Langhaarfrisur zu Berge. „Wir haben uns zwei Tore selbst reingemacht. Es ist wie verhext — wenn ein Spieler einen Fehler macht, schließen sich zwei andere gleich mit an. Das Ende dieser Kettenreaktion ist meist ein Tor gegen uns.“ Am Verdienst des Chemnitzer Erfolgs machte der
1„Mann ohne Maske“ (ein daheimgebliebener St. Pauli-Fan) jedoch keine Abstriche. „Der Sieg geht voll in Ordnung. Chemnitz hat fast alle Zweikämpfe gewonnen. Tore waren da nur die logische Konsequenz.“
Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese Niederlage für den Millerntorverein und seine Angestellten haben wird. Gespräche, jedenfalls, wurden in letzter Zeit schon einige geführt. Geschehen ist — mit Ausnahme des Pokalspiels — nichts.
Helen Harper / Max Schulz
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