Das Ja ist kein „Sieg für Europa“

■ Die hauchdünne Mehrheit der FranzösInnen ist kein Vertrauensbeweis für Maastricht und Mitterrand/ Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen nach einer Volksabstimmung

Paris/Berlin (taz/AFP/AP/dpa) — Mitterrand und die Eurokraten in Westeuropa sind knapp an der von ihnen beschworenen Katastrophe vorbeigeschrammt. Nur rund 51,5 Prozent aller der FranzösInnen, die zur Wahl gingen, haben ihr „Oui“ zu den Maastrichter Verträgen gesagt, ergaben erste Hochrechnungen nach der Schließung der Wahllokale gestern abend um 20 Uhr. Die Wahlbeteiligung betrug etwa 70 Prozent. Das Ergebnis ist mehr als ein Achtungserfolg für die Europagegner quer durch die Parteien: für diejenigen, die sachliche Kritik an den verwaschenen Formulierungen der Maastrichter Verträge haben, die das Demokratiedefizit der künftig geplanten europäischen Entscheidungsprozesse beklagen, für diejenigen, die die Aufgabe nationaler Souveränitäten bedauern, aber auch für diejenigen um Le Pen, die ihr „Non“ zu Maastricht mit einer entschiedenen Absage an den alternden Mitterrand und seine sozialistisch geführte Regierung verbinden.

Nichts könnte deshalb verfehlter sein als der Jubel des französischen Kulturministers Jack Lang, der in einer ersten Stellungnahme von einem „Sieg über Europa“ sprach und frohlockte: „Bravo Frankreich, bravo den Franzosen!“ Realistischer reagierte Europaministerin Elisabeth Guigou: „Sehr knapp. Aber wir hatten das erwartet.“ Sie wußte: Fast wäre alles noch schlimmer gekommen.

Beide Seiten hatten sich in den spannungsgeladenen Wochen vor dem Referendum eine regelrechte Materialschlacht geliefert. 5.900 Tonnen Papier wurden in den vergangenen Monaten in Frankreich mit Propaganda — pardon: Information — bedruckt. Unabhängig vom Ausgang des Referendums gehörte deshalb die französische Verlagsbranche schon gestern zu den eindeutigen GewinnerInnen. So verkaufte sich ein Schnellschuß der beiden konservativen Maastricht-GegnerInnen Garaud und Seguin — Titel De l'Europe et de la France (Von Europa und von Frankreich) — binnen weniger Tage 50.000mal.

Deutschland und die Deutschen hatten im Mittelpunkt der französischen Maastricht-Kampagne gestanden. BefürworterInnen der Verträge hatten argumentiert, das seit der Vereinigung erstarkte Nachbarland könne nur mittels einer Europäischen Union in Schach gehalten werden. Die GegnerInnen hingegen witterten die Gefahr, von der anderen Rheinseite politisch vereinnahmt oder gar unterdrückt zu werden. Kanzler Kohl hatte bei einem dreistündigen Fernsehauftritt seines sozialistischen Freundes Mitterrand versucht, den FranzösInnen die Angst zu nehmen. „Sie sind doch so eine große Nation“, sagte er dabei. Binnenmarktkommissar Bangemann, ebenfalls Deutscher und seit Jahren in Brüssel tätig, fand die Anti- Deutschen-Stimmung in Frankreich „ziemlich unzumutbar“.

Druck auf das französische Wahlvolk versuchten nicht nur deutsche PolitikerInnen auszuüben. In Brüssel drohte der — französische — Präsident der EG-Kommission, Delors, seinen Rücktritt für den Fall eines „Non“ an. Spaniens Regierungschef Gonzalez stieg in Frankreich für seine sozialistischen Parteifreunde in die Bütt. Und selbst aus Nicht-EG- Ländern wie Schweden und Österreich kam die Belehrung an die FranzösInnen, nur ein Kreuzchen bei dem „Oui“ sei richtig.

Gestern bauten deutsche PolitikerInnen bereits für alle Fälle vor. Bei einer Ablehnung der Verträge in Frankreich, so Außenminister Kinkel (FDP), ginge „die Welt nicht unter“. Man müsse dann eben auf dem aufbauen, was bislang in Europa erreicht worden sei. Bundestagspräsidentin Süssmuth (CDU) meinte, es gehe nach einem französischen „Nein“ nicht darum, die Wirtschafts- und Währungsunion zu verschieben. Sondern dann wäre „auszuhandeln, was geschehen muß, damit unsere Bürger in Europa von der Union überzeugt werden“. Die vereinbarten, abstrakten Prinzipien der politischen Union müßten dem Bürger verständlicher gemacht werden.

FDP-Politiker zogen gestern bereits einen möglichen Nachfolger für Delors aus der Tasche. Sollte der Kommissionspräsident zurücktreten, wäre Genscher der beste Mann für den Job, sagte FDPler Menzel.

In Bonn forderte Wieczorek-Zeul (SPD) eine neue öffentliche Diskussion darüber, wie die europäische Zusammenarbeit für die Zukunft unter Beteiligung der Bürger demokratisch und sozial gestaltet werden könne.

Zugleich warnte sie vor einem Rückfall in „nationalistische Kleinstaaterei“ auch in Westeuropa. Eine Verfassunggebende Versammlung auf europäischer Ebene verlangten ihre GenossInnen bei den Jusos. Unter anderem wünschen sie sich, daß „die Kommission endlich durch das Parlament gewählt“ wird.

Aus Dänemark, wo das Wahlvolk am 2. Juni vormachte, wie man auch mit den Maastricht-Verträgen umgehen kann, sandte der konservative Regierungschef gestern ein mahnendes Wort nach Frankreich: Ein französisches Nein, so Schlüter, sei gefährlicher als ein dänisches. dora