In preußischem Kulturbesitz

„Amerika 1492—1992. Neue Welten — Neue Wirklichkeiten“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin  ■ Von Brigitte Werneburg

Die sogenannte Neuzeit, angeblich hat sie am 12. Oktober 1492 ihre Premiere gehabt, als ein Italiener eine kleine Karibikinsel betrat, und wird demnach seit 500 Jahren en suite gespielt. Kein Grund zu feiern, hat man sich, aus unterschiedlichen Gründen, global geeinigt. Dennoch wird international mit großartigen Ausstattungsstücken aufgewartet, in denen der Hauptdarsteller Kolumbus heißt, und es wird beteuert, daß seine Rolle keineswegs die entscheidende sei. Der Frage, ob er in ihr als Held oder Schurke zu besetzen sei, kann man ausweichen, indem man das technische Medium, das Verkehrsmittel, das die Entdeckung und Erschließung „Neuer Welten — Neuer Wirklichkeiten“ ermöglichte, in den inszenatorischen Mittelpunkt der am Samstag im Martin-Gropius-Bau eröffneten Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, „Amerika 1492—1992“ stellt.

Und so liegt Kolumbus' Lieblingsschiff, die Niña , als begehbare Rekonstruktion in Originalgröße im Lichthof des Martin-Gropius-Baus vor Anker. Für die heutigen BetrachterInnen, die für etwelche Abenteuer in durchaus zivilisierten Regionen immer hochgerüstet auftreten, scheint es ein erschreckend kleines Schiffchen für eine Fahrt ins Ungewisse zu sein. Damit verbucht Christóbal Colón erst einmal einen Sympathiegewinn für seinen kühnen Unternehmungsgeist, auch wenn 1927 Egon Friedell seine Fahrt abfällig als „eine nautische Rekordleistung von subalternem sportlichen Interesse“ nannte. Im Jahr der spanischen Olympiade ist das kein Manko.

Die kleine Karavelle ist also Einleitungsmotiv zum ersten Themenkomplex „Entdeckungen“, der Vorgeschichte, Durchführung und unmittelbare Folgen der Entdeckungsfahrt des Kolumbus behandelt. Neben einer Vielzahl von Schiffsmodellen (ein Modell der „Friedrich Wilhelm zu Pferde“, einem brandenburgischen Sklavenschiff, findet sich in der Abteilung „koloniale Ausbeutung“) stellen die verschiedenen Globen und stetig verbesserten Weltkarten, die im Arkadengang zu bestaunen sind, die Instrumente konsequenter Welteroberung, -beherrschung und -ausbeutung dar.

Die lateinamerikanischen Völker, Indianer, Indios und Afro-Amerikaner, die „Entdeckten“, das zweite Großthema der Ausstellung, haben sich als die Opfer und Verlierer in der ihnen zwangsweise angetragenen Auseinandersetzung um kulturelle, politische und ökonomische Macht bekanntermaßen schon im Vorfeld des „Kolumbusjahres“ weltweit protestierend zu Wort gemeldet, um die Nutznießer ihres Niedergangs anzuprangern. Und diese wiederum sind erneut Nutznießer: Liest man sich etwa quer durch den die Ausstellung begleitenden Essayband, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Energie und Antriebswille zu einer „kritischen Reflexion von Geschichte“ in Grenzen halten. Im Endeffekt baut man auf der Vorarbeit der Betroffenen auf, die man als „deutliches, publizistisches Unbehagen“ ausmacht, bevor man die Ausstellung bescheiden eine „Anregung“ nennt, „nachdenkliche Fragen zu unserer Geschichte zu stellen“.

Wenn gesagt wird, die „kritische Energie“ hält sich in Grenzen, dann sind das konkret die der deutschen Wissenschaft. Welche eine historisch stichhaltige, wissenschaftlich reflektierte und akribisch-vielfältige Darstellung der Ereignisse liefert, die sich nicht anmaßt, „ein Tribunal über das Ausgreifen europäischer Mächte zu veranstalten“. So weit so gut so selbstverständlich. Damit ist noch nichts weiter Anerkennenswertes geleistet. Das wäre erst der Fall, wenn man nicht nur wie Ottmar Ette in einem Essay über „unseren“ Welteroberer Alexander von Humboldt bedauerte, daß „die lateinamerikanische Forschung zu Alexander von Humboldt hierzulande nur äußerst selten wahrgenommen wird“, sondern die Gelegenheit, die sich mit dieser Ausstellung böte, eben diese Forschung und ihre Ergebnisse kennenzulernen, dem Publikum nicht vorenthielte.

Aber in dem bekannten Entmündigungsgestus gegenüber beiden Parteien, den „Entdeckten“ und den „Besucher-Entdeckern“ der Ausstellung spricht man doch besser gleich für die Betroffenen und greift interpretierend und vermittelnd ein; es wäre doch fatal, wenn Inkompetenz auf Inkompetenz stieße! Das Interpretationsmonopol über „die neuen Welten“ und „neuen Wirklichkeiten“ so wird einem in der Ausstellung immer wieder nahegebracht, war nicht zuletzt eines der wirkungsvollsten Herrschaftsinstrumente. Wir verstehen das sehr gut.

Wir verstehen auch, warum das Neue dann immer gleich so alt aussah. Am besten illustrieren das die Räume, die dem Mythos Eldorado, dem Gold, der Conquista, der Missionierung und den Bildphantasien gewidmet sind. Wenn, wie gesagt wird, Reisen die eingefahrenen Zirkel der Imagination sprengen soll, dann war die angestaute Explosionskraft domestizierter „alte Welt“- Phantasie zu gewaltig. Alle bösen, geilen, niederträchtigen, furchtsamen und abergläubischen Vorstellungen durften die Daheimgebliebenen und die Ausschweifenden, die völkerverschlingenden europäischen Goldsucher, in die stereotype Darstellung des Indianers als grausamen, rohen, häßlichen Menschenfresser projizieren.

Und dabei begegneten die ungebildeten Conquistadoren doch veritablen Hochkulturen! Das wird dem Besucher durch die geschickte Ausstellungsanordnung zuvor deutlich vorgeführt. In Vitrinen mit hunderten kleiner Keramikfigürchen der Valdivia-Kultur verblüffen die 5.000 Jahre alten Damen mit ihren hochgetürmten Frisuren, betonten Augenbrauen und schräggestellten Augen, die sie wie heutige Soraya- Punks aussehen lassen. Tongefäße jüngeren Datums zeigen Tier-, Pflanzen- und Menschendarstellungen, in eindrucksvoll fremdartigen Formen. Die bedeutenden Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz können mit allem aufwarten, was gut und teuer ist; Maya, Inka, Azteken, was immer sie an Kalendern, an Schrift, Weberei, Tonarbeiten, Skulpturen und natürlich Gold vorzuweisen hatten, hier findet sich ein erklecklicher Teil. Der Schock, nach dem kulturellen und künstlerischen Reichtum auf die barbarischen Conquistadoren zu stoßen, sitzt. Dennoch hat das „Achtung Hochkultur!“ den unguten Beigeschmack, daß hier ein besonders verbecherischer „Irrtum“ auf seiten der Europäer vorgelegen habe; als ob man sich an Völkern ohne solche Kultur weniger schuldig machen könnte.

Ein auffallend würziger Duft liegt in der Luft: Die Zeugnisse der materiellen Kultur der Indianer der amerikanischen Nordwestküste, mit denen im ausgehenden 18.Jahrhundert wergen des Reichtums an Pelztieren erste Handelsbeziehungen geknüpft wurden, reizen nicht nur die visuellen Sinne. Auch hier hat das Berliner Völkerkundemuseum eine reichhaltige Schatzkammer geöffnet. 1881 hatte der damalige Direktor, Adolf Bastian, vorsorglich-klug den Norweger Jacobson auf eine Sammelreise an die Nordwestküste geschickt. Carl Hagenbeck, Hamburger Zoodirektor, bestellte gleich eine Indianergruppe mit, um sie in seiner Völkerschau präsentieren zu können. Soweit zu den Gepflogenheiten europäischen Wissensdursts.

Der erwartbare Ausstellungshit wird der Raum der Prärie-Indianer sein, mit Tipi und prächtigen Federhauben, den Insignien des „echten Indianers“. Dieser ist aber nur halbecht, letztlich ein „weißes“ Produkt, denn das Pferd, das ihn zum Reiternomaden machte, war durch die Spanier eingeführt worden. Mit einem gewagten Schritt in die Niederungen der Massenkultur findet sich hier eine ebenso erhellende wie selbst- ironische, das Kind im Mann treffende Ausstellungskoje „Indianerklischees“. Das Interpretationsmonopol in der Karikatur seiner kommerziellen Verwertung, das „So- werde-ich-Indianer“-Spiel; sodann Indianercomics, Winnetou-Poster und jede Menge Plastik-Indianer. Gegen die steht das neue Klischee des umweltverträglichen „Öko-Indianers“. Der edle Wilde, meist Hopi, ist naturverbunden und mit magischen und heiligen Kräften gesegnet, die ihn dazu befähigen, die Welt vor dem drohenden ökologischen Unheil zu bewahren.

Das schreitet derweil ungeniert voran, der vorletzte Raum ist der Abholzung der tropischen Regenwälder gewidmet und rechtfertigt insofern das zweite Eckdatum 1992, von dem schon zu befürchten stand, es tauche in der Katastrophengeschichte gar nicht weiter auf. Aber gerade hier fältl erneut das schon benannte Problem der gewiß sehenswerten, anregenden und reich aspektierten Ausstellung auf: Auch in der Regenwalddebatte sind es wieder wir, die entwickelte alte und neue Welt, die die Daten liefern, die Entwicklung aus den Daten prognostizieren und entsprechende Verhaltens- und Vorgehensregeln den zu Regenwaldschutz verpflichteten Ländern zu diktieren suchen. Nachdem wir ökologischen Raubbau durch vielerlei ökonomischen und politischen Eigennutz mitzuverantworten haben, geschieht dies, wie auch anders, in bekannter Sorge um unser aller Bestes. Das Unrecht an der Welt, aber auch der Versuch der Besserung, alles gewissermaßen in preußischem Kulturbesitz.

Martin-Gropius-Bau, Stresemannstraße, bis 3. Januar 1993, Di-So 10—20 Uhr, Katalog 28Mark, Essayband 35Mark.