„Emil Constantinescu ist ein einfacher Mann“

In dieser Woche wird in Rumänien zum zweiten Mal nach dem Sturz Ceausescus gewählt/ Um das höchste Staatsamt bewerben sich sechs Kandidaten/ Neben Präsident Ion Iliescu hat der Rektor der Bukarester Universität, Emil Constantinescu, die größten Chancen, in die Stichwahl zu kommen  ■ Von William Totok

Am 27. September finden in Rumänien zum zweiten Mal nach dem Sturz des nationalkommunistischen Diktators Nicolae Ceausescu Wahlen statt. Im Mai 1990 war das von der demokratischen Opposition als „neokommunistisch“ bezeichnete Regime Ion Iliescus ans Ruder gekommen. Iliescu hatte seinen Untertanen Wohlstand und Demokratie versprochen, Rumänien wollte er aus der wirtschaftlichen Krise und der politischen Isolation herausführen. Versprechungen — die er alle nicht einhalten konnte.

Die halbherzigen Wirtschaftsreformen des Kabinetts unter dem Vorsitz des früheren Iliescu-Intimus Petre Roman verschärften die ökonomische Lage. Der Übergang zur Marktwirtschaft äußerte sich primär in katastrophalen Preissteigerungen, sekundär in einer zunehmenden Verelendung der Bevölkerung. Iliescu duldete in den zwei Jahren seiner Amtszeit keinen Widerspruch. Was nicht in sein Konzept paßte, wurde einfach eliminiert. Unvergessen scheinen auch die Prügelorgien der von ihm im Juni 1990 herbeigerufenen Bergarbeiter zu sein, die friedliche DemonstrantInnen unter dem Beifall einer aufgeputschten Menge vom Bukarester Universitätsplatz vertreiben sollten oder in den Randbezirken der Hauptstadt pogromähnliche Razzien gegen „asoziale“ Roma durchführten.

Selbst die Pseudo-Reformen seines Premiers gingen dem mit einer überwältigenden Mehrheit gewählten Iliescu zu weit. Im September 1991 mußte Roman zurücktreten. Damit war auch das Ende der charismatischen „Front zur Nationalen Rettung“ — so der hochtrabende Name der Regierungspartei — vorprogrammiert. Die beiden zerstrittenen Fraktionen verwandelten sich in diesem Frühjahr in eigenständige Parteien: die „Demokratische Front zur Nationalen Rettung“ (Iliescu- Flügel) und die „Front zur Nationalen Rettung“ (Roman-Flügel).

Mit dem Regierungsantritt des „Technokraten“ Theodor Stolojan im September 1991 blieb die allgemeine Lage unverändert. Die Preise für Grundnahrungsmittel, Dienstleistungen und Energie wurden während der zweiten Etappe der staatlichen Subventionskürzungen weiter angehoben, die Schlangen vor den Lebensmittelläden mit Billigangeboten wuchsen. Damit fiel seltsamerweise auch die Popularitätskurve Iliescus, der bekanntlich ein ausgesprochener Gegner des derzeitigen Wirtschaftskurses ist. Die Politikverdrossenheit befindet sich im Anstieg, Massen verelendeter Vorstadtproletarier pilgern nun an das Grab des hingerichteten Ceausescu. Sie wünschen sich die „soziale Sicherheit“, die „festen Arbeitsplätze“ und die früher finanziell erschwinglichen Lebensmittelrationen herbei.

Der sinkende Stern Iliescus

Mit dem sinkenden Stern Iliescus steigen die Chancen der nationalistischen Populisten. Der Wettlauf um die Gunst der WählerInnen, die am 27. September eine neue PräsidentIn und ein neues Parlament bestimmen sollen, dominiert zur Zeit die gesamte rumänische Öffentlichkeit. Zwanzig PolitikerInnen versuchten eifrig, die 100.000 gesetzlich vorgeschriebenen Unterschriften zu sammeln, um sich um den angestrebten Präsidentensessel bewerben zu können. Den Kampf antreten werden nun jedoch lediglich sechs Kandidaten.

Einer davon ist weiterhin Ion Iliescu, der 1990 85,07 Prozent erhalten hatte, im Gegensatz zu seinen beiden Konkurrenten, dem Nationalliberalen Radu Campeanu und Ion Ratiu von der Christdemokratischen Nationalen Bauernpartei, für die 10,64 Prozent beziehungsweise 4,29 Prozent der RumänInnen stimmten. Als gefährlichster Konkurrent Iliescus — dem nach neuesten Meinungsumfragen nur noch etwa 39 Prozent der WählerInnen ihre Stimme geben würden — gilt der Rektor der Bukarester Universität Emil Constantinescu, der derzeit bei 29 Prozent liegt. Er ist der Kandidat des aus 17 Parteien zusammengesetzten Oppositionsblocks, des „Demokratischen Konvents“. Die Chancen für die anderen Kandidaten stehen somit ziemlich schlecht. Keiner der sechs Präsidentschaftskandidaten, sagen Beobachter voraus, werden im ersten Wahlgang die benötigten 51 Prozent aller Stimmen erhalten.

Kandidaten und Propaganda

Wer wem bei der Stichwahl gegenüberstehen und welche Partei welchen Kandidaten dann unterstützen wird, ist angesichts der in fast 200 Parteien aufgesplitterten rumänischen Politlandschaft schwer zu sagen. Caius Dragomir, der Präsidentschaftskandidat der reformfreundlichen Fraktion der „Front zur Nationalen Rettung“ hält einen Trumpf in den Händen, der ihn sogar in den Augen der demokratischen Opposition salonfähig macht. Als im März 1990 die außerparlamentarische Opposition mit der sogenannten „Proklamation von Temeswar“ ein auf zwei Legislaturperioden beschränktes Kandidaturverbot für ehemalige Parteifunktionäre und Securitate-Leute forderte, gehörte zu den Mitunterzeichnern dieses wichtigen postrevolutionären Dokuments auch der als „Wendehals“ eingestufte Caius Dragomir. Heute sitzt Dragomir als Staatssekretär in der Regierung des Technokraten Theodor Stolojan und beschäftigt sich dort mit der propagandistischen Aufpolierung des arg ramponierten Images des Landes im Ausland. Der ironisch auch als „Imageminister“ bezeichnete Dragomir hofft nun seinen Wiedersacher Iliescu zu besiegen. Die „Front zur Nationalen Rettung“ bezeichnet er als eine sozialdemokratische Partei, in der die „Demokratie und die Transparenz eine ausschlaggebende Rolle spielen“. Die „Menschen- und Minderheitenrechte“ werden, wie er behauptet, in seinem Wahlprogramm ebenso berücksichtigt wie die „nationale Frage, die Integrität des Landesterritoriums und die Idee des Nationalstaates“.

Gegen den Versuch verschiedener Zeitungen, den militärfaschistischen Diktator Ion Antonescu (1940-44) zum postkommunistischen Helden hochzustilisieren, hat er prinzipiell allerdings nichts einzuwenden. Daß die Wachmannschaft im Regierungsgebäude die antisemitische Gazette Europa liest, führt er nicht auf den aggressiven neuen Nationalismus zurück, sondern er sieht darin nur den Drang nach Befriedigung irgendwelcher sensationslüsterner Beamter. Das Programm seines Rivalen Iliescu qualifiziert er als „prokommunistisch“ ab, das des „Demokratischen Konvents“ als „uneinheitlich“. Eine Regierungskoalition mit dem Konvent schließt der selbstbewußte Dragomir allerdings nicht aus, falls er und seine Front-Partei es nicht schaffen sollten, die erträumte absolute Mehrheit im Parlament zu erringen. Sein schwammiger Slogan, mit dem er sich in das Wahlrennen stürzte, lautet folgerichtig: „Veränderung ohne Haß und Vergeltung!“

Die dem gewendeten Altkommunisten Iliescu nahestehenden konservativen Kreise haben, laut Dragomir, eine neue politische Heimat in der „Demokratischen Front zur Nationalen Rettung“ gefunden. Daß der Roman-Partei nach wie vor zahlreiche Repräsentanten der alten Nomenklatura angehören, weist Dragomir ausdrücklich zurück. Bekanntlich stammt Front-Chef Roman selber aus der Familie eines stalinistischen Parteiapparatschiks. Sein Vater war maßgeblich an der Durchsetzung des Kommunismus in Rumänien beteiligt. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Roman von den antisemitischen Publikationen Europa und Groß-Rumänien vorgeworfen, Rumänien an das internationale Kapital verkaufen zu wollen. Selbst aus den Reihen der demokratischen Opposition gab es Stimmen, die, solange Roman Premier war, für Rumänien „Führer forderten, in deren Adern rumänisches Blut fließt“.

Sozialdemokratische Verkleidungsversuche

Merkwürdigerweise definiert sich auch die „Demokratische Front zur Nationalen Rettung“ als eine sozialdemokratische Partei, und mit ihr noch weitere sieben bis acht Splittergruppierungen. Bei dieser Inflation von sozialdemokratischen Parteien gerät sogar Sergiu Cunescu, der Vorsitzende der „Rumänischen Sozialdemokratischen Partei“, die als rechtmäßige Erbin der Vorkriegssozis gilt, in Argumentationsschwierigkeiten. All diese Parteien sind in seinen Augen verkappte, kryptokommunistische Gruppierungen, die den sozialdemokratischen Gedanken zu usurpieren versuchen. Cunescu beteuert immer wieder, zusammen mit den anderen historischen Parteien, der „Christdemokratischen Nationalen Bauernpartei“, der „Nationalliberalen Partei“ sowie mit der „Bürgerallianz Partei“, dem „Demokratischen Verband der Ungarn“ und noch einigen kleineren Parteien und Bürgerrechtsgruppen bei den Kommunalwahlen im Februar dieses Jahres unter der Bezeichnung „Demokratischer Konvent“ die Bereitschaft zur Demokratie bewiesen zu haben. Die WählerInnen honorierten die politische Glaubwürdigkeit des „Konvents“, indem 25 Prozent aller Stimmen zu ihren Gunsten abgegeben wurden.

Die zunehmenden interethnischen Spannungen, vor allem in Siebenbürgen, wo die rechtsradikale „Nationale Einheitspartei“ (d.i. die politische Speerspitze der neofaschistischen Massenorganisation „Vatra Romaneasca“ — Rumänische Heimstätte) in mehreren Großstädten bei den Kommunalwahlen einen haushohen Sieg errungen hatte, wirkten sich jedoch auch auf den demokratischen Oppositionsblock aus. Da auch Campeanu einen nationalistischen Kurs einschlug, spaltete sich vom „Demokratischen Konvent“ eine „Nationalliberale Partei/Demokratischer Konvent“ ab.

Durch seine ungeschickten politischen Manöver hat die von Campeanu geführte Partei einen empfindlichen Prestigeverlust hinnehmen müssen. Um sich in die Gunst der WählerInnen einzuschmeicheln, hatte der ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Parteichef einen letzten verzweifelten Schachzug gewagt: er schlug kurzerhand den 1947 zur Abdankung gezwungenen König Michael als Präsidentschaftskandidaten vor. Campeanu hatte sich jedoch verkalkuliert. Der im Schweizer Exil sitzende Ex-Monarch, der sich in Rumänien einer zunehmenden Popularität erfreut und in den Augen vieler Oppositioneller als geheimer Hoffnungsträger für die Rückkehr zur Demokratie gilt, lehnte höflich ab. Einer Rückkehr, ließ Michael aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen durch seinen Pressesprecher mitteilen, stimme er nur als reinthronisierter König bei.

Die ungarische Minderheit

Die Absetzung zweier ungarischer Präfekten in den mehrheitlich von UngarInnen bewohnten siebenbürgischen Bezirken, Harghita und Sovesna, gilt als ein schlechtes Zeichen für die Korrektheit der anstehenden Wahlen. Ungarische Minderheitenpolitiker befürchten zudem einen Rechtsruck, falls es den beiden Front-Parteien nicht gelingen sollte, genügend Stimmen zu erhalten. Der ungarische Parlamentsabgeordnete Imre Borbely meint sogar, daß die Rechtsradikalen im Herbst 20 Prozent der Stimmen bekommen könnten. Seinen Bündnispartnern aus dem „Demokratischen Konvent“ wirft er angesichts dieser bedrohlichen Situation politische Kurzsichtigkeit vor. Vorsichtig kritisiert er die „sozialpsychologische Hemmung“ des Konvents, die dazu führt, die „eigenen fundamentalen Interessen nicht zu erkennen“.

Nicht mehr ausgeschlossen wird inzwischen auch eine Koalition zwischen der rechtsextremen „Partei Groß-Rumänien“ und Iliescus „Demokratischer Front zur Nationalen Rettung“. Die großrumänischen Scharfmacher haben bereits ihre Unterstützung für Iliescu bekanntgegeben und somit auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten verzichtet. Das von Präsidialkreisen kontrollierte Fernsehen leitete zudem das politische Comeback eines der wichtigsten Propagandisten der Ceausescu-Ära, des notorischen Hofdichters und Speichelleckers Adrian Paunescu, ein. Der seit dem Sturz Ceausescus verpönte Paunescu gab in den letzten zwei Jahren eine der übelsten chauvinistischen Zeitungen — Dennoch die Liebe — heraus, in der er systematisch eine politische Aufwertungskampagne zugunsten des gestürzten Diktators, der verhafteten Politgrößen des alten Regimes und der hohen Securitate-Offiziere betrieben hatte. Parallel dazu veröffentlichte er weiterhin byzantinisch gefärbte Lobhudeleien auf Iliescu.

Demokraten und Demagogen

Der Rektor der Bukarester Universität und Kandidat des „Demokratischen Konvents“ Emil Constantinescu ist trotz dieser unheilverkündenden Konstellationen zuversichtlich. Er möchte den Leuten während des Wahlkampfes keine leeren demagogischen Versprechungen machen. Emil Constantinescu verkörpert tatsächlich den von Nicolae Cerveni aus dem Leitungsausschuß der „Nationalliberalen Partei/Demokratischer Konvent“ beschriebenen Idealtypus des Oppositionspolitikers: „Constantinescu ist ein einfacher Mensch, er gehört zu den gewöhnlichen Leuten.“

Um auf das überschwenglich gezeichnete Porträt seines Kandidaten noch etwas Farbe aufzutragen, fügt der redegewandte Jurist Cerveni noch hinzu: „Ich will nicht sagen, daß er Charisma hat, aber er ist ein wahrer Intellektueller, der seine Hörer überzeugt, seine Argumente kompetent vortragen kann und die angeschnittenen Probleme mit Sachkenntnis behandelt.“ Constantinescu hofft während seiner Wahlkampagne auf die Unterstützung eines Teiles der orthodoxen Kirche, der Lehrerschaft und der technischen Intelligenz.

Zu den Merkwürdigkeiten des rumänischen Wahlkampfes gehört mitunter nicht nur eine gewisse Blauäugigkeit so mancher Kandidaten und Parteien, sondern auch eine etwas naive Zuversicht auf die eigenen Siegeschancen. Auch der ehemalige Ministerpräsident des benachbarten Moldova, Mircea Druc, der nun die rumänische Staatsangehörigkeit angenommen hat, spekuliert auf die seit der Wende ausgebrochene Vereinigungseuphorie. Falls er Präsident wird, würde er die Vereinigung der ehemaligen sowjetischen Moldaurepublik mit Rumänien durchsetzen. Ihm schwebt das historische Modell des Fürsten Alexandru Ioan Cuza vor, der 1859 durch seine Wahl zum gemeinsamen Herrscher der Moldau und der Walachei die Union herbeigeführt und somit die Gründung Klein-Rumäniens ermöglicht hatte.

Im Vergleich zu den ultranationalistischen Wahlslogans eines Gheorghe Funar („Wer für den ,Demokratischen Konvent‘ stimmt, stimmt für die Zerstückelung und den Ausverkauf des Landes!“) erscheinen die Parolen Iliescus („Stabilität“, „Wohlstand“, „außerordentliche Maßnahmen gegen Korruption und Kriminalität“) harmlos. Demagogisch vehement präsentiert sich jedoch auch der sechste, von der „Republikanischen Partei“ nominierte Präsidentschaftskandidat, Ion Manzatu, den die wichtigste Oppositionszeitung des Landes, die Romania libera, kürzlich als „Konjunkturreiter“ abqualifizierte. Bei den Wahlen im Mai 1990 schlossen die „Republikaner“ Manzatus ein kurzfristiges Bündnis mit der ultranationalistischen „Nationalen Einheitspartei“.

Inwiefern die Parteien und die ins Rampenlicht der von einer unübersehbaren Politikverdrossenheit gekennzeichneten Öffentlichkeit getretenen Präsidentschaftskandidaten die WählerInnen zum Urnengang bewegen können, sei dahingestellt. Bei den Kommunalwahlen im Februar lag die Wahlbeteiligung bei rund 64 Prozent — beim zweiten Wahlgang bei 53 Prozent. Dies ist mehr als ein besorgniserregendes Indiz für das, was jetzt ins Haus stehen könnte.