: Mit Kinderarbeit zum Exporterfolg
Indiens „Tag der Teppichkinder“ zeigt unhaltbare Zustände auf/ Mittelalterliche Arbeitsverhältnisse werden politisch gedeckt/ Jetzt regt sich Opposition gegen die Kinderversklavung/ Auch europäische VerbraucherInnen könnten viel erreichen ■ Aus Delhi Bernard Imhasly
Die elf Kinder, die am „Tag der Teppichkinder“ letzte Woche dem indischen Premierminister eine Bittschrift überreichten, reagierten ängstlich auf die Aufmerksamkeit der Medien. Es war wenig verwunderlich: Keine sieben Tage zuvor hatten sie noch, in fensterlosen Hütten eingeschlossen, im Dörfchen Tilthi im östlichen Indien Teppiche geknüpft.
Mit Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden, der Boden neben dem Webstuhl als Nachtlager und eine stereotype Mahlzeit von Reis und Linsen, hatten diese Jungen in den primitiven Lehmhütten ihre Kindheit verbracht, manche von ihnen bereits über zehn Jahre lang. Wie Hunderttausende ihrer AltersgenossInnen zwischen fünf und 15 Jahren waren sie von Agenten in abgelegenen Dörfern ihren bitterarmen Eltern abgeworben worden, gegen eine Handvoll Rupien und das Versprechen regelmäßiger Lohnüberweisungen, die dann nie eintrafen.
Eine private Hilfsorganisation, die „South Asian Coalition on Child Servitude“ (SACCS), hat sich nun zum Ziel gesetzt, Kinder aus diesen und anderen Formen moderner Sklaverei zu retten. Am vergangenen Dienstag waren SACCS-Vertreter mit den Eltern und einigen Journalisten überraschend in Tilthi aufgetaucht, um die Kinder zu befreien. Doch diese waren zunächst nirgends zu finden. Über die Polizei hatten die Teppichhersteller von der bevorstehenden Aktion erfahren und den Kindern erzählt, die Polizei sei im Anmarsch, um sie zu verhaften — sie sollten sich verstecken. Es dauerte mehrere Stunden, bis die Jungen im Dickicht der Zuckerrohrfelder und im Geröll einer nahen Schlucht aufgespürt werden konnten.
Teppich-Boom in ganz Südasien
Tilthi ist eines der vielen Teppichdörfer im Distrikt Mirzapur in der Nähe der Stadt Benares, der in den letzten Jahren dank der Teppichherstellung einen beispiellosen Boom erlebt hat. Nach dem Niedergang der iranischen Teppichindustrie waren Indien, Nepal und Pakistan in die Bresche gesprungen und machten Teppiche zu einem wichtigen Exportprodukt. Kaihash Satiarthy, Sekretär von SACCS, schätzt allein die indische Produktion auf einen jährlichen Wert von über 300 Millionen Mark. 95Prozent davon werden exportiert.
Für die südasiatischen Länder ist der Gewinn von Devisen von großem wirtschaftlichen Gewicht, und die Teppichindustrie hat entsprechend bedeutenden politischen Einfluß. Dies zeigt sich etwa darin, daß die Politiker und Beamten der indischen Teppichdistrikte praktisch nichts unternehmen, um dem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit Achtung zu verschaffen. Denn der rasche Aufbau einer ganzen Industrie und der Erfolg ihrer Produkte auf den umkämpften Märkten des Westens ist nur mit möglichst billiger Produktion möglich. Bei den hohen Margen der Importeure und den Tiefstpreisen in den Läden sind viele Produzenten darauf angewiesen, ihre Gestehungskosten immer tiefer zu schrauben.
Es gibt keine billigeren Arbeitskräfte als Kinder, besonders solche, die ohne Kontakt mit ihren Familien auf Gedeih und vor allem Verderb von ihren Brötchengebern abhängig sind und nicht auf die Hilfe des Staates rechnen können. So mußten die SACCS-Vertreter am Dienstag die Kinder und Eltern zuerst vor dem Büro des Distriktverwalters aufreihen, bis sich dieser dazu bequemte, den „Befreiungsausweis“ zu unterschreiben, der die Kinder in Zukunft vor dem gleichen Los bewahren sollte.
Abgesehen vom Straftatbestand der Kinderarbeit wird auch vom Umfeld weggeschaut, das oft jeder Beschreibung spottet: Eingeschlossen in abgedunkelte, luftlose Räume, sehen viele Kinder nur kurz das Tageslicht. Arbeit, Essen und Schlafen — alles geschieht im gleichen Raum, aus dem es keine Fluchtmöglichkeit gibt. Der Umgang mit Messern, mit denen die geknüpften Teppichfäden gekappt werden, führt oft zu Verletzungen, für deren Behandlung sich laut SACCS eine Standardbehandlung durchgesetzt hat: die Wunde wird, damit sie nicht mit dem Blut den Teppich beschmutzt, an Ort und Stelle mit dem Pulver von Zündholzschwefel bestrichen — und ausgebrannt.
So verbrigt das Gütesiegel vom „handgeknüpften Teppich“ statt einer stolzen handwerklichen Tätigkeit allzuoft Sklavenarbeit. Allein in Indien wird die Zahl der arbeitenden Kinder unter 15 Jahren auf über 40 Millionen geschätzt. Vier Millionen sind in der Teppichindustrie beschäftigt, zehn Prozent davon als rechtlose und kostenlose Zwangsarbeiter.
Angesichts des erwachenden Mißtrauens der europäischen Käuferschaft, ebenso wie der Aufklärungsarbeit von Organisationen wie SACCS, beginnt man sich dieser Opfer endlich zu erinnern. So gibt es in Indien neuerdings einen Zusammenschluß von Firmen, die sich verpflichten, keine Kinderarbeit zuzulassen, und die mit SACCS regelmäßige Kontrollen vereinbart haben. Bei einer geschätzten Zahl von 2.000 Herstellern und Exporteuren bilden diese dreißig Unternehmen allerdings eine kleine Minderheit. Sollte es ihnen aber gelingen, ein eigenes „kinderarbeitsfreies“ Gütesiegel durchzusetzen, wären die KonsumentInnen in Europa in der Lage, etwas zu erreichen, was bisher weder Gesetzen noch internationalen Konventionen zum Schutz des Kindes gelungen ist: Sie könnten Hersteller und Händler durch ihr Kaufverhalten an rechtliche Pflichten erinnern und einen humanen Mindeststandard erzwingen.
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