KUNST ZUM AUSSCHNEIDEN (8) Der 2. Blick: Freiheit & Abenteuer

Ein Skulpturen-Rundgang durch das Neue Museum Weserburg in 13 Stationen / Heute: „Das Floß“ von Stephan Huber

„Das Floß“ von Stephan Huber ist 1989 entstanden. Es ist aus Holz gebaut, gleicht allerdings eher einem Möbel. Auf einer dunklen, glänzend polierten Palette aus fünf säuberlich verarbeiteten Holzlatten stehen zwei rotbraun lackierte Holzkisten aus fünf schmaleren Leisten, die fast die ganze Breite des „Floßes“ einnehmen. Der Besucher kann die freistehende Skulptur umgehen, von jeder Seite wirkt sie streng und geometrisch.

Stephan Huber beschäftigt sich mit gesellschaftspolitischen Fragen, mit Arbeits- und Eigentumsverhältnissen, Ausbeutung und Abhängigkeit durch Kapital. Bei seinen Skulpturen bedient er sich der Formensprache von Gebrauchsgegenständen, die ihrer Funktion enthoben sind. „Das Floß“, präzise und edel in der Ausführung, kühl und abweisend in der Erscheinung, ist als Fetisch zu betrachten, es braucht seine Wassertauglichkeit nicht unter Beweis zu stellen.

170 Jahre liegen zwischen Hubers Objekt und dem „Floß der Medusa“, 1819 von Theodore Gericault gemalt, dessen Bildinhalt sich auf ein konkretes Ereignis bezieht. Die französische Fregatte „Meduse“ war 1816 auf der Fahrt nach Afrika aufgelaufen. 27 Tage trieben die Schiffbrüchigen auf einem Floß in der See. Gegen diese dramatisch bewegte Szene wirkt das Floß Stephan Hubers merkwürdig statisch, dekorativ und tot. Die beiden Behältnisse erinnern an Container, Urnen, Schatz- und Seemannnskisten. Doch wo ist die Mannschaft?

Diese beiden gegensätzlichen Kunstwerke haben über den Titel „Floß“ hinaus etliche Gemeinsamkeiten — auf den zweiten Blick. Hubers Interesse an Rauminszenierungen, theatralischen Momenten, optischen Täuschungen und „prunkvollem“ Material ist auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kunst. Wie bei Gericault ist die theatralische Sicht mit einem politischen Moment verknüpft. Das „Floß der Medusa“ steht sowohl für eine realen Schiffbruch, für den Kampf ums Überleben, wie als Symbol für politischen und kulturellen Umsturz. Wirkt Hubers Arbeit anfänglich hermetisch, wird sie plötzlich magisch, aussagekräftig, falls wir ihr den zweiten Blick gönnen: Auch sie steht für Freiheit und Abenteuer, für unbegrenzte Möglichkeiten wie politische Krisen, z.B. in dem Entstehungsjahr 1989. So bewegt und turbulent die Szene auf Gericaults Floß dargestellt ist, so statisch wirkt sie auf Dauer. Bei Hubers Floß könnte die produktive Vorstellungskraft des Betrachters die Bilder der abwesenden Menschen provozieren: Konsum, Schiffbruch, Untergang?

Bei Homer ist das Floß, dieses uralte Verkehrsmittel, ein Rettungsfloß. Mit ihm floh Odysseus von der Insel Ogygia, nachdem er sich aus den Liebesfängen der schönen Nymphe Calypso befreien konnte. Hubers Arbeiten dokumentieren zugleich Kritik und Liebe zur Verbindung von Alltagssituation und Elementen des Reichtums. Aus „barocker Weltsicht“ ist auch seine zweite Arbeit, „Rotes Idol“ (1987), zu verstehen. Das raumgreifende „Relief“ aus Aluminium und furniertem Holz hängt symmetrisch gegenüber dem Floß, trügerisch überhöht durch aufwendige Verarbeitung. Der Betrachter steht wie vor einem Götzenbild und kann sich fragen, welch persönlichen Tribut er täglich seinen Trugbildern entrichtet. Christine Breyhan