István Eörsi: Was ist aus der Höhe nicht zu sehen?

■ Eine Antwort auf György Konráds Formaljuristerei

Vor einigen Tagen, auf einem Schriftstellertreffen in Slowenien, drückte mir jemand den Artikel von György Konrád in die Hand, der als erster Beitrag zu der Umfrage „Europa im Krieg“ in der taz vom 8.August 1992 erschienen ist. Die Slowenen waren indigniert, die Kroaten röchelten vor Empörung. Mich jedoch veranlaßt nicht ihre Reaktion zu dieser Wortmeldung, sondern meine eigene. Konrád — mein alter Freund und Kollege in den Jahrzehnten der Opposition — zieht aus unseren gemeinsamen Erfahrungen Schlüsse, die die verschiedenen oppositionellen Bewegungen der Länder des einstigen Jugoslawiens verletzen. Mit meiner verspäteten Antwort möchte ich deutlich machen, daß das Überlegenheitsgefühl, auf das sein Artikel schließen läßt, kein gemeinsames Eigentum der früheren osteuropäischen Opposition ist.

„Die demokratische Bewegung Osteuropas hat es geschafft, ohne Gewalt auszukommen und die demokratische Wende eigentlich ohne Blutvergießen zu erreichen. Der Geist der Gewaltfreiheit und der praktische Widerstand sowie die spätere Strategie der Vertragsverhandlungen haben sich bewährt.“ Wir haben also mit unserer Vernunft, unserem Talent, unserer Geduld und unserem Humanismus die Sowjetunion gezwungen, sich ohne Blutvergießen aus unseren Ländern zurückzuziehen; demgegenüber haben die Kroaten, Slowenen und Bosnier mit ihrem weniger vernünftigen, weniger talentierten, weniger geduldigen, also unrechtmäßigem und gewalttätigem Verhalten die Serie haarsträubender, blutiger Tragödien, deren Zeugen wir jetzt sind, selbst heraufbeschworen.

Fast geniert es mich, diese Unsinnigkeit zu widerlegen. Die Führer der Sowjetunion erkannten vor dem Zerfall ihres Reiches, daß die Satellitenländer in einer Krisensituation ihnen mehr Lasten als Vorteile bringen würden. Die Führer der Satellitenländer wiederum wagten, mit der unvermeidlichen Wirtschaftskatastrophe vor Augen, ohne sowjetische Unterstützung nicht die Verantwortung auf sich zu nehmen, die mit der Alleinherrschaft verbunden ist. Dagegen wollten die Serben mit allen Mitteln die jugoslawische Staatengemeinschaft zusammen- und unter ihrer Leitung halten. So hätten wir geschafft, was die kroatische oder bosnische oder auch serbische Opposition nicht zuwege bringen konnte.

Ein ideologischer Grundpfeiler des Konrádschen Standpunktes ist die formaljuristische Betrachtungsweise: „Wenn eine förderative Teilrepublik ohne vertragliche Abmachung mit den anderen, ohne jede formale Loslösungsprozedur aus der Förderation ausscheidet, einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt und konstitutionell einen Staat der Mehrheitsnation ausruft, wenn allerorten die dort geltenden ethnischen Proportionen zählen, dann wird es in diesen politischen Gebilden Staatsbürger zweiter Klasse geben, die ratsamerweise ihre nationale Identität leugnen und sich beeilen sollten, die nun an die Macht gekommene Mehrheitsnation ihrer Loyalität zu versichern.“

Der zweite Teil des Zitats bedeutet für mich: Wenn in irgendeiner Staatsstruktur die Menschenrechte aufgrund ethnischer oder rassischer oder religiöser oder sonstiger Überlegungen eingeschränkt werden, müssen wir gegen die Argumentation, die sich auf die Unantastbarkeit der Nation beruft, einen menschenrechtlichen Standpunkt einnehmen. Wenn zum Beispiel der kroatische Präsident mit der Selbständigkeit seines Landes die Einschränkung der Rechte der im Land lebenden Serben deklariert, dann ist er moralisch und politisch auf das Niveau des serbischen Präsidenten gesunken, der sich allgemeiner Verachtung erfreut. Letzterer beschnitt schon vor dem Auseinanderfallen Jugoslawiens die Rechte der Albaner im Kosovo und dann auch der Ungarn in der Woiwodina, womit er neuerlich bewies, daß nicht nur eine Teilrepublik unter Berufung auf ethnische Motive Rechtsverletzungen begehen kann.

Der problematische erste Teil des Zitats dagegen suggeriert, ein Land brauche nur selbständig zu werden, eine vertragliche Abmachung, eine formale Loslösungsprozedur, und die Verantwortung für ihr Ausbleiben trage die Teilrepublik, die einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt. Das gilt für Kroaten und Slowenen schon deshalb nicht, weil sie anfangs eine Konförderation forderten, und erst, als die Serben davon nichts wissen wollten, strebten sie die volle Unabhängigkeit an. Zu Verhandlungen darüber waren die Serben natürlich erst recht nicht geneigt, und da sie die zentrale Macht überwiegend und die Armee völlig in der Hand hielten, war es ihnen ein leichtes, die vertragliche Abmachung zu vereiteln.

Wenn in einer Staatsstruktur die proportionale Verteilung der Rechte nicht mit einer proportionalen Verteilung der Stärke verbunden ist, wird das Recht formal, es verliert sein moralisches Gewicht und in kritischen historischen Augenblicken auch seine Gültigkeit. Aus einer Höhe betrachtet, aus der das Konkrete nicht mehr zu sehen ist, verletzt derjenige den Vertrag, der sich über ihn hinwegsetzt, obgleich in Wirklichkeit derjenige die Verantwortung hat, der sich im Bewußtsein seiner Stärke vor Abmachungen verschließt, die den neuen Erfordernissen entsprächen. Wenn Konrád das Fehlen einer vertraglichen Abmachung bemängelt und die einseitige Unabhängigkeitserklärung der Kroaten und Slowenen verurteilt, dann muß er auch Lajos Kossuth verurteilen, weil er 1849 ohne vertragliche Abmachung die Unabhängigkeit Ungarns gegenüber Österreich erklärte, und dann muß er auch die Regierung Imre Nagy rügen, weil sie 1956 einseitig den Warschauer Vertrag aufkündigte. Wenn Konrád konsequent ist — aber ich weiß, daß er es zum Glück nicht ist —, muß er Kossuth und Imre Nagy, nicht aber Österreich und die ungarische Marionettenregierung der Sowjetunion für die blutige Vergeltung nach 1849 und 1956 verantwortlich machen.

Formal gesehen scheint auch die Feststellung zutreffend, daß es oftmals von Weisheit zeugt, sich nicht einzumischen, wenn zwei sich streiten und abzuwarten, „bis die kämpfenden Parteien müde werden und zu sich kommen“, weil die Menschenverluste nur auf diese Weise einigermaßen zu beschränken sind. Aber was bedeutet dieser gute Rat, wenn die kämpfenden Parteien ungleich bewaffnet sind? Daß die schwächere von der stärkeren ausgerottet wird und eine dritte garnicht mehr Gelegenheit bekommt, sich einzumischen?

Die formaljuristische Betrachtungsweise hat in Ungarn eine große Tradition. Da — zumindest seit JosephII. — für die relative, partielle Unabhängigkeit in erster Linie mit staatsrechtlichen Mitteln gekämpft wurde, verfeinerte sich die juristische Argumentation ganz außerordentlich, auch auf Kosten des philosophischen Denkens. Der Respekt vor den Formen und der Wall aus exakt umgrenzten Rechten boten der schwächeren Partei zwar Schutz, hinderten sie aber auch daran, in politischen und moralischen Krisensituationen zum Frontalangriff überzugehen. Das erfordert eine Citoyen-Mentalität und führt zum Zerbrechen der rechtlichen Formen. Die Hochachtung vor den oftmals formaljuristischen Strukturen gewährt Teilsicherheit, begünstigt aber die Untertanen-Mentalität. Sehr interessant, daß Konrád — der von solcher Mentalität weit entfernt ist — gleichfalls in die Falle des Formalismus tappt, und zwar als Folge der Erhabenheit seines Humanismus. Das Humane ist zwar wunderbar in seiner Abstraktheit, aber es paßt zu nichts genau. Was sollen wir zu einem sagen, der ganz allgemein einwandfrei gekleidet ist, aber konkret ohne Hose, Hemd, Jacke und Schuhe?

Nach alledem muß ich zugeben, daß ich das Wiederaufleben und Toben des Nationalismus in Ostmitteleuropa und der ehemaligen Sowjetunion ähnlich wie Konrád bekümmert und mitunter verzweifelt beobachte. Es ist der erschreckendste Armutsbeweis der Gesellschaften sowjetischen Typs, daß sie nicht einmal den faschistoiden Unrat beseitigt haben, der sich vor und während des Krieges angesammelt hat. Ich habe wenig Illusionen gehabt, aber damit hatte ich nicht gerechnet. 1987 fragte ich meinen Freund Danilo Kis, warum er in Paris lebe und nicht nach Belgrad zurückkehre. „Weil ich es nicht ertragen kann, daß Serben und Kroaten einander am liebsten abschlachten würden“, war seine Antwort. „Du bist nicht mehr bei Trost“, entgegnete ich, „ich fahre oft nach Jugoslawien, aber davon habe ich noch nie etwas bemerkt.“ „Weil du nichts begreifst“, meinte Danilo, „ich bin der letzte jugoslawische Schriftsteller.“

Inzwischen wissen wir, wie recht er hatte. Serben und Kroaten metzeln einander mit dem gleichen unversöhnlichen Genuß nieder wie zur Zeit des Krieges. Immer mehr Ubus treten auf, ein potentieller neuerdings auch in Ungarn. Und immer unvorstellbarer wird das Europa meiner Träume, wo das Wort Nation nur einen kulturellen Sinn hat. Ähnlich wie Konrád hielte ich einen mittelosteuropäischen Ausgleich für nützlich; ohne diese Zwischenstufe ist, so glaube ich, an eine gesamteuropäische Integration nicht zu denken. Kläglich erscheint mir der Wettlauf der Regierungen unserer Region Richtung „Europa“ — ein Europa, das von uns immer weniger wissen will und das sich mit seinen unlösbaren Problemen immer ratloser herumschlägt. Aber selbst wenn ich von Integration träume, muß ich es einfach zur Kenntnis nehmen, wenn eine Nation, die Unabhängigkeit anstrebt, ihren eigenen Staat schafft.

Voriges Jahr schrieb Peter Handke, er bezweifle, daß Slowenien irgendeinen akzeptablen Grund für eine unabhängige staatliche Existenz habe. Meiner Ansicht nach genügt als Grund, daß mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung sie wünschten. Ich kann das bedauern, denn ich mochte das komplette Jugoslawien und hielt es für wunderschön; aber ich sehe in der selbständigen Staatlichkeit ebenso ein Menschenrecht wie in den Minderheitsrechten innerhalb eines gegebenen Staates. Ich stimme Konrád zu: „Europa braucht auch weiterhin konföderative Lösungen“ — aber woher sie nehmen? Aus falschen Analogien, die unsere Vortrefflichkeit beweisen? Aus juristischen Formeln? Aus der Erschöpfung derer, die die Kämpfe überleben? Aus unseren erhabenen Prinzipien?

Helfen kann nur, daß wir uns über unsere gemeinsamen Interessen klar werden. Das bedeutet gegenwärtig zähe, harte Kleinarbeit mit wenig Aussicht auf Erfolg. Sie besteht aus konkreten, unscheinbaren Aufgaben, die aus der Höhe kaum zu sehen sind.

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki