Der Hymnensänger auf dem Blechfaß

Irland erbebte: Die Meisterschaft im „gaelic football“, dem Sport der Widerständler gegen die Briten, wurde traditionell am dritten Sonntag im September, diesmal in Dublin, ausgespielt  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Vor dem Cross Guns Inn in Nord- Dublin hatte sich am Sonntag abend eine riesige Menschentraube gebildet. In der Kneipe war es noch schlimmer: Menschen in himmelblauen und grüngelben Hemden tanzten auf den schmalen Tischen und grölten Volkslieder. Ein junger Mann war auf die Rückenlehne der Sitzbank geklettert und versuchte, eine blaue Fahne in die holzgetäfelte Decke zu rammen. Nur den zähesten Trinkern gelang es, sich bis zur Theke vorzukämpfen. Hinter dem Tresen waren sieben Barmänner mit dem völlig vergeblichen Versuch beschäftigt, mit den Bestellungen Schritt zu halten — es war ein typischer „All Ireland Day“.

Der dritte Sonntag im September ist der Höhepunkt des irischen Sportkalenders. An diesem Tag wird nämlich seit über hundert Jahren das Finale im Gälischen Fußball ausgetragen — einer Sportart, die nur entfernt etwas mit „normalem“ Fußball zu tun hat. Die Regeln sind schnell erklärt: Es geht darum, den Ball im gegnerischen Tor unterzubringen. Das zählt drei Punkte. Geht er über die Querlatte zwischen den verlängerten Pfosten, gibt es einen Punkt. Torrichter in langen, weißen Fleischerkitteln wachen über die Flugbahn und signalisieren einen Punktgewinn mit Fähnchen. Der Ball darf mit der Hand gespielt, muß jedoch mit dem Fuß vom Boden aufgenommen werden.

Die Regeln über die Behandlung der Gegner sind recht freizügig und erinnern an Rugby. Diesen Vergleich weisen die Funktionäre der „Gaelic Athletic Association“ (GAA) allerdings schroff zurück: Die „englischen“ Sportarten Rugby und Fußball werden abgrundtief verachtet.

Bis in die fünfziger Jahre durften sich GAA-Mitglieder diese Spiele nichtmal ansehen, geschweige denn daran teilnehmen. Noch heute ist das Dubliner GAA-Stadion Croke Park für das verabscheuungswürdige Fußball und Rugby gesperrt. Der Grund für die Abneigung liegt in der Geschichte:

Die 1884 gegründete GAA war von Anfang an Teil der Widerstandsbewegung gegen die britische Besatzungsmacht. Polizisten, Gefängniswärter und Soldaten durften dem Verband nicht beitreten. Beim Osteraufstand 1916 kamen viele Spieler gälischer Klubs ums Leben. So traf nach einem IRA-Attentat 1920 der britische Vergeltungsschlag nicht zufällig den Croke Park: Englische Soldaten erschossen während eines Football-Spiels 13 Menschen, darunter den Kapitän des Teams aus Tipperary.

Vorgestern ging es friedlicher zu. Das Finale ist längst ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem auch Regierungschef Albert Reynolds und Präsidentin Mary Robinson — für die ein abgewetzter roter Teppich ausgerollt wurde — nicht fehlen durften. Das Ritual vor dem Spiel ist immer dasselbe: Zunächst wurde das Team vorgestellt, das das Finale vor 25 Jahren gewonnen hatte. Allerdings waren einige Spieler verhindert, die aber wenigstens durch ihre Brüder oder Neffen vertreten wurden. Sodann begrüßte die Präsidentin die Finalteilnehmer per Handschlag. Danach mußten die Spieler im Gänsemarsch hinter der Blaskapelle um den Platz laufen, und endlich kletterte ein Tenor auf ein Blechfaß im Mittelkreis und trällerte die Nationalhymne. Die letzte Strophe ging freilich im Lärm der 70.000 Zuschauer unter. Die GAA hätte gut und gerne fünfmal so viele Tickets verkaufen können. Ganz Donegal — das ist die Grafschaft im Nordwesten Irlands — balgte sich um die Eintrittskarten. Schließlich stand ihr Team zum ersten Mal im Endspiel.

Hunderte von Donegal-Auswanderern kamen aus Kanada, Australien und den USA waren angereist, um das Spiel in der Heimat mitzuerleben — wenn schon nicht live, dann doch wenigstens vor einem der Großbildschirme, die in fast jeder Kneipe in Donegal aufgestellt wurden. Die ohnehin dünn besiedelte Grafschaft wirkte am Sonntag nachmittag wie ausgestorben. Für Finalgegner Dublin war das Ereignis dagegen nicht neu: Die himmelblau gekleideten Hauptstadtkicker hatten die Sam-Maguire-Trophäe bereits 21mal gewonnen. So galten sie am Sonntag auch als haushohe Favoriten. Die Medien spekulierten lediglich über die Höhe des Sieges.

Die ersten zehn Minuten des Spiels schienen ihnen recht zu geben. Dem Team aus Donegal gelang überhaupt nichts, außer einem Lattenschuß, was beim Gaelic Football besonders ärgerlich ist, weil er keinen müden Punkt bringt — im Gegensatz zu einem Schuß, der zwanzig Meter über das Tor segelt. Im Gegenzug erhielt Dublin einen Strafstoß zugesprochen, weil ein Donegal-Spieler selbst nach gälischen Maßstäben zu grob mit seinem Kontrahenten umgesprungen war. Der Dubliner Strafstoß-Spezialist Charlie Redmond setzte den Ball jedoch knapp neben das Tor.

Das war der Wendepunkt des Spiels. Fortan schossen die Außenseiter aus Donegal immer wieder über die Latte und zogen Punkt um Punkt davon. Zwar bäumte sich Dublin kurz vor Schluß noch einmal auf, kam jedoch nie näher als drei Punkte Rückstand heran. Am Ende stand es 18:14. Tore waren zwar nicht gefallen, aber dennoch war es eines der besten Endspiele seit Jahren. Sekunden nach dem Abpfiff war der Rasen von Tausenden Donegal- Fans überflutet.

Jetzt werden wir zwei, drei Wochen lang feiern

Bei seiner Dankesrede schluchzte Mannschaftskapitän Tony Molloy vor Glück ständig auf. Auf ihn hat Regierungschef Reynolds bereits ein Auge geworfen, er würde den Sportler zu gerne — wie in Irland so üblich — als Kandidaten für seine Fianna- Faíl-Partei (Soldaten des Schicksals) verpflichten. In der Kabine sagte der nichtsahnende Molloy dann: „Ich glaube, wir werden jetzt ein bißchen feiern — so zwei, drei Wochen lang.“

Die Fans hatten damit freilich längst begonnen. Im Cross Guns Inn gaben sich die Anhänger beider Mannschaften gegenseitig eine Runde nach der anderen aus. Der Freudenrausch der Donegal-Fans hatte auch die Dubliner angesteckt. Wer das Ergebnis nicht kannte, hätte meinen können, Dublin habe gewonnen. Eine heisere Frau aus Donegal mit grüngelb geschminktem Gesicht, die ein Tablett mit einem dutzend Gläsern Guinness durch die singende Menge balancierte, brüllte: „So haben nicht mal die Deutschen ihren Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft gefeiert!“