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In Rußland ist Rostock weit weg

Die Diskriminierung ihrer Landsleute im Baltikum interessiert die Russen sehr viel mehr als Überfälle auf Asylbewerber in Deutschland/ Mit den Bürgerkriegen im „neuen Ausland“ — den einstigen Sowjetrepubliken — hat man genug Sorgen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Außenwelt nimmt in der russischen Presse vorzugsweise dann Gestalt an, wenn sie in Form der „Großen 7“ und deren wirtschaftlicher Unterstützung für das mehr oder weniger gewaltfreie Überleben des nächsten Winters hier wieder einmal ausschlaggebend zu werden verspricht. Durchgängige Themen der Beziehungen zwischen Ruß- und Ausland sind außerdem die leidigen Kurilen und konträre Analysen des überwältigenden Erfolges der mexikanischen Fernsehserie „Auch die Reichen weinen“.

Aber halt: Der Begriff „Ausland“ wird vom westlichen Beobachter leicht zu eng — oder wenn man/frau will, auch zu weit — interpretiert. Denn während die alte Bundesrepublik neue Länder bekam, gewann die alt-neue Russische Föderation den festen Begriff des „Neuen Auslandes“ hinzu.

So trägt die außenpolitische Seite der streckenweise brillanten Nesawisimaja Gaseta die Überschrift: „Beim Land nebenan“ — und beschäftigt sich fast ausschließlich mit Geschehnissen in Georgien, Moldova, dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg oder vielleicht Tadschikistan. Wenn man dann liest: „Diskriminierung der Immigranten verstößt gegen Menschenrechte“ — so handelt es sich mit Sicherheit nicht um die Rostocker Ereignisse, sondern um die Situation der Russen in den baltischen Staaten.

Dies ist auch kein Zufall, denn für Auslandskorrespondenten ist die neue russische Presse zu arm. Eine Ausnahme bilden hier die Prawda, deren Korrespondentenbüros von anderen Organisationen mitgetragen werden, und die sich erfolgreich privatisierende Iswestija. Letztere leistet sich in der Regel zwei, manchmal auch drei Auslandsseiten und jedes halbe Jahr sogar einen Artikel auf der ersten Seite zur letzten Hungerkatastrophe in der Dritten Welt.

Kehren vor der eigenen Tür

Daß auch relativ tabuarme politische Zeitschriften wie das hier wöchentlich erscheinende Journal Moscow News die Rostocker Ereignisse unkommentiert passieren ließen, läßt sich wohl auf das betretene Bewußtsein zurückführen: Man habe zuerst vor der eigenen Tür zu kehren, nämlich „beim Land nebenan“, bei den Bürgerkriegen der GUS, an denen die Schuld der eigenen Regierungen vom treuen Leser- und Autorenkreis nicht gering eingeschätzt wird. Daraus resultiert eine gleichsam pädagogische Haltung gegenüber den Wechsellesern, deren politische Energien man offenbar nicht unnötig von den brennenden Konflikten vor der Haustür ablenken möchte. Motto: Was sind schon ein paar verschreckte Vietnamesen in Rostock angesichts der erschossenen Frauen und Kinder und sadistisch zu Tode gefolterten Gefangenen nebenan.

Im Bruderland gedieh der Faschismus wie im Treibhaus

Aus einem ebenso pädagogischen Impuls resultiert offenbar das hartnäckige Schweigen der Ex-KPdSU-Zeitung Prawda, die sich ihrerseits an die Devise hält, daß nicht sein kann, was nicht sein darf: nämlich daß der Faschismus im Bruderland jahrzehntelang offenbar wie im Treibhaus gedieh.

Beiden Aspekten der innerrussischen Sicht trägt Iswestija-Korrespondent Vladimir Lapski in seinen Artikeln vom August dieses Jahres Rechnung. Lapski referiert periodisch gewissenhaft über die Wehen der deutschen Wiedervereinigung. Auch in diesem Falle bemühte er sich um eine streng nachrichtliche und wertungsarme Berichterstattung. Gleichzeitig will er allerdings den russischen Tabus nicht auf den Leim gehen. Nicht ganz gelang ihm dies im Falle der führenden BRD-Politiker, denen er mit Mann und Maus bescheinigt: „Weil sie den Rostocker Hexensabbat als Schande für Deutschland betrachten, haben die einflußreichen Parteien und Politiker der BRD eindeutig die Neonazisten und die, die sie ermutigten, verurteilt.“ Und nun der Iswestija-Blick auf die Ursachen: „Schließlich sind jene, die heute die Ausländerunterkünfte zu zertrümmern versuchen, von klein auf im Geiste des Internationalismus erzogen worden; und wirklich beherbergte die DDR ja unter ihrem Dach alle, die in ihrer Heimat verfolgt wurden, die sich vor einer Diktatur gerettet hatten — da braucht man nur an die tausende von Chilenen zu denken, die vor Pinochet geflohen waren.“

Die Spaltprodukte der Internationalismus-Erziehung

Das stimmt schon. Aber der Internationalismus hatte in der DDR, wie auch in den anderen „Bruderländern“, seine spezifische Klassenstruktur, das heißt, er war selektiv und erstreckte sich auf einen relativ engen Kreis von „Verwandten aus der gleichen Klasse“.

Inzwischen reifte da aber auch etwas Bestimmtes heran, dessen Existenz die Parteiführung nicht so gern über Lautsprecher verkündete: „Skinheads“ kreuzten auf den ostdeutschen Straßen schon lange vor dem Fall der Berliner Mauer auf, und sie verprügelten und hetzten Vietnamesen, Mosambikaner und Polen. Wenn man so will, waren sie das gespaltene Produkt der Internationalismus-Erziehung, bei der die einerseits enge und oft nur vorgetäuschte Internationalität mit der alltäglichen Suggestion einherging, die DDR sei das demokratischste und fortschrittlichste Land der Welt. Und dies bedeutete unter anderem: die Suche nach dem Klassenfeind.

P.S.: Das Wort „Pogrom“ ist russischen Ursprungs. Es bedeutet soviel wie „Gewitterdonner“ und bezog sich im letzten Jahrhundert auf die zahlreichen Judenpogrome in den von slawisch Völkern dominierten Teilen des Imperiums.

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