Kohl führt Wahlkampf in der Lindenstraße

TV-Serie „Murphy Brown“ erhitzt die Gemüter in den USA, und Vizepräsident Dan Quayle mischt mit  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Stellen Sie sich vor, in Deutschland herrscht Wahlkampf. Mittenmang ragt Helmut Kohl aus dem christdemokratischen Kampagnenheer und attackiert aus heiterem Himmel die „Lindenstraße“, weil deren Endlosdramen über schwule Söhne, Aids- kranke Liebhaber und außereheliche Liebesverhältnisse die grundsätzlichen Werte der deutschen Gesellschaft unterminieren. Vor allem das heilige Gut der Vater-Mutter-Kind- Familie. Ganz Deutschland lacht nicht etwa, sondern diskutiert intensiv über den Gehalt dieser Vorwürfe. Die Drehbuchautoren der „Lindenstraße“ spitzen schließlich die Federn und lassen ihre Charaktere eine ganze Folge lang auf Helmut Kohl einprügeln.

Das wäre vermutlich entweder das Ende des Kanzlers oder der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. In den USA ist es Tagesthema in allen Haushalten mit Fernseher — und das sind immerhin 92 Millionen. Die TV-Serie heißt in diesem Fall „Murphy Brown“ und der Politiker Dan Quayle, seines Zeichens Vizepräsident der USA. Murphy Brown, Hauptperson in einer Fernsehserie, in der sich das Fernsehen selbst zum Thema macht, ist eine erfolgreiche TV-Reporterin. Weil es Drehbuchautorin Diane English so wollte, wurde die ledige Karrierefrau in einer der letzten Folgen schwanger und beschloß, das Kind zu bekommen. Womit der ganze Trubel anfing. Denn Dan Quayle befaßte sich just zu diesem Zeitpunkt — kurz nach den Unruhen in Los Angeles — mit der Frage, was mit seinem Land nicht mehr stimmt, und präsentierte die Antwort in einer Wahlkampfrede vor laufenden Kameras: Ein Verfall grundlegender Werte sei die Wurzel des Übels, zu dem unter anderem Hollywood mit seinen verluderten Fernsehserien beitrage, weil es alleinstehende Mütter glorifiziere und sich über die Rolle der Väter lustig mache. Das, man möchte es nicht glauben, war der Startschuß für die landesweite Debatte um „family values“.

Montag abend nun schlug Murphy Brown alias Candice Bergen zurück. Die Drehbuchautoren hatten Quayles reale Rede in ihre fiktive Story eingebaut; ihre Hauptperson durfte ihrerseits in einer fiktiven Ansprache in ihrem fiktiven TV-Studio eine ironisch-freche Attacke gegen den Vizepräsidenten landen. Der wiederum saß selbst vor einem realen Fernseher, um den TV-Reportern vor der Haustür nach Ende der „Murphy Brown“-Sendung einen Kommentar zu liefern. Fragen sich die Zuschauerinnen, ob er nichts Besseres zu tun hat.

Doch in den USA wird zur Zeit tatsächlich ein Kampf um gesellschaftliche und moralische Werte und neue Mythen ausgetragen. Dieser Konflikt trägt absurd-komische Züge im Fall Quayle/Murphy Brown. Er nimmt sehr viel erbittertere Formen an, wenn zum Beispiel christlich-fundamentalistische „watch dog“-Gruppen Schulbücher, Schallplatten, Videokassetten auf ihre Konformität mit „Grundwerten“ wie Ehe, Heterosexualität und Gottesgläubigkeit überprüfen — und notfalls versuchen, sie aus dem Verkehr zu ziehen.

Ein großer Teil von Hollywoods Drehbuchautoren versteht sich als durchaus parteilich in diesem Kulturkampf, der von manchen Kommentatoren schon als Substitut für den Kalten Krieg angesehen wird. Sie machen, wie Diane English, aus ihrer Antipathie gegen George Bush und Anhang keinen Hehl — und lassen ihre politische Überzeugung ganz ungeniert in ihre Arbeit einfließen. Sehr zum Ärger von Dan Quayle, der in Hollywood tatsächlich ein neues Reich des Bösen gefunden hat. Nur mit Murphy Brown, so erklärte er am Montag, wolle er jetzt Waffenstillstand schließen. Ihrem Baby will er ein Stofftier schicken.