Weltbankdirektor rügt Eurozentrismus

■ 1,5 Billionen Dollar Dritte-Welt-Schulden sind kein Thema für die IWF/Weltbank-Jahrestagung

Washington/Berlin (taz/epd/AP) — Weltbank-Direktor Ernest Stern hat vor der offiziellen Eröffnung der 47. Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank gestern die Industrieländer scharf kritisiert. Die Probleme der EG würden auf dem Rücken der ärmsten Länder ausgetragen, sagte Stern in Washington unter Anspielung auf die Turbulenzen im Europäischen Währungssystem (EWS).

Nach vier Verhandlungsrunden zur Vorbereitung des Treffens der Finanzminister und Notenbankchefs aus 171 Ländern sei immer noch nicht klar, ob die Industrieländer der Internationalen Entwicklungsagentur (IDA) im kommenden Geschäftsjahr gleich hohe Mittel zur Verfügung stellen würden wie bisher, sagte Stern. Die Weltbank-Tochter IDA vergibt besonders zinsgünstige Kredite an die ärmsten Länder der dritten Welt, während die Kredite der Weltbank zu marktnäheren Konditionen gewährt werden. Auch der von Weltbankpräsident Preston auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro vorgeschlagene Sonderfonds zur Finanzierung von Umweltprojekten in der dritten Welt stoße auf Finanzierungsschwierigkeiten, sagte Stern. „Es ist, als ob Rio niemals stattgefunden hätte.“

In einer Erklärung des gemeinsamen Entwicklungsausschusses von Weltbank und IWF hieß es, Hauptpriorität der Entwicklungsländer müsse die Förderung der privaten Spartätigkeit sein, da die Kreditwirtschaft der Industriestaaten kaum wieder zur expansiven Kreditvergabe der 70er Jahre zurückfinden werde. Dazu müsse in den Entwicklungsländern ein effizientes Finanzsystem geschaffen werden.

Das ist nach IWF-Meinung inzwischen möglich, denn die Schuldenkrise sei gebannt, so die Experten der Finanzorganisation. Derartige Beschwichtigungen konnte man seit dem Ausbruch der Schuldenkrise im August 1982 zwar immer wieder hören. In der Regel bezogen sie sich aber auf die Zahlungsfähigkeit der Gläubigerbanken, nicht der Schuldnerländer. Jetzt, so die Schuldenexperten des IWF, Charles Collyn und Michael Kuhn, sei die Krise auch für die größten Schuldnerländer überwunden.

Den IWF-Experten zufolge hat die Kombination von Schuldenstreichungen, langfristigen Umschuldungen und Wirtschaftsreformen „eindrucksvolle Ergebnisse“ vor allem bei den Schuldnerländern mittleren Einkommens gebracht. Nach Schuldenabkommen mit Argentinien und Brasilien im Rahmen des von US-Finanzminister Nicholas Brady 1989 vorgeschlagenen Programms („Brady-Initiative“) sei der größte Teil der Bankschulden durch neue Abkommen geregelt. Dementsprechend gebe es wieder „normale Beziehungen“ zwischen Kreditgebern und -nehmern.

Dadurch hätten die Schuldnerländer wieder Zugang zu den privaten Kapitalmärkten, und das Fluchtkapital ströme in die Entwicklungsländer zurück. Die „Brady-Länder“, darunter Mexiko, Venezuela, Argentinien und Brasilien, hätten 1991 aus privaten Quellen über zehn Milliarden US-Dollar erhalten.

Auch die meisten der hoch verschuldeten ärmsten Entwicklungsländer könnten mit der derzeitigen Schuldenerlaß- und Umschuldungsstrategie („Trinidad-Bedingungen“) aus der Umschuldungsspirale herauskommen, meinen die IWF-Experten. Allerdings sei bei „einigen Ländern“ die Schuldenlast hierfür „immer noch zu groß“.

Die Schuldenlast der Entwicklungsländer beläuft sich auf insgesamt 1,5 Billionen Dollar. Die optimistische Einschätzung des IWF hat jedoch dazu geführt, daß bei der Jahrestagung zum ersten Mal seit zehn Jahren das Thema Schulden nicht auf der Tagungsordnung der Leitungsgremien („Interims- und Entwicklungsausschuß“) steht. Daran konnte auch die Gruppe der Entwicklungsländer (G-24) nichts ändern, die in ihrem Kommuniqué zur Jahrestagung ihre Sorge zum Ausdruck brachte, „daß das Schuldenproblem bei weitem nicht gelöst ist“.

Am schärfsten setzte sich Horst Schulmann, scheidender Direktor des Internationalen Finanzinstituts der Geschäftsbanken in Washington, vom IWF-Optimismus ab. Er meinte, die Schuldenerlasse hätten die Krise nicht gelöst. Man habe in den 80er Jahren die „große Chance“ verpaßt, das Problem durch die Umwandlung von Schulden in Anlagekapital und gemeinsame Finanzierungen mit der Weltbank zu lösen.

Im Vergleich zum IWF beurteilte die Weltbank die Situation sehr viel vorsichtiger. In der Septemberausgabe der IWF/Weltbank-Zeitschrift „Finanzierung und Entwicklung“ stellte Weltbank-Chefökonom Lawrence Summers zwar fest, die Kreditbeziehungen normalisierten sich. Dennoch seien mehr als 40 Entwicklungsländer, vor allem in Afrika, von einem Ende der Schuldenkrise noch „weit entfernt“. Skeptisch ist auch die Welthandels- und Entwicklungsorganisation (Unctad) in Genf. Sie weist in ihrem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht 1992 darauf hin, daß sich 97 Prozent aller neuen privaten Finanzzuflüsse an Entwicklungsländer im vergangenen Jahr auf nur acht Länder konzentrierten: Argentinien, Brasilien, Mexiko, Venezuela, Indien, Indonesien, Malaysia und Südkorea.