Positive Diskriminierung

Zum Kulturartikel im Vertrag von Maastricht  ■ Von Wolfgang Hippe

Im Streit um die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Vertrags von Maastricht geriet eine Bestimmung erst gar nicht ins Blickfeld der breiten Öffentlichkeit, die ebenfalls einen Umbruch in der europäischen Politik markiert. Die sogenannte Kulturklausel — der Art. 128 (Titel IX) — sieht vor, daß die EG kulturelle Bestrebungen ihrer Mitgliedsstaaten unterstützt und auch selbst „einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ leisten darf. Die Förderung soll die entsprechenden Aktivitäten der Mitgliedsstaaten ergänzen und „unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung“ der jeweiligen nationalen Bestimmungen erfolgen.

Die Bestimmung geht weit über bisherige Kulturprogramme der EG hinaus, Ton- und Sachlage sind für Brüssel neu. „Dort herrscht in Hinblick auf die kulturpolitischen Auswirkungen des Vertrages durchaus Ratlosigkeit. Bislang haben sich die EG und die europäischen Kulturorganisationen eher mißtrauisch belauert“, skizziert Andreas Wiesand, Generalsekretär des „Deutschen Kulturrates“, die vorherrschende Stimmungslage bei einer Tagung, zu der sich erstmals Vertreter nationaler und regionaler Kunst- und Kulturräte aus rund dreißig europäischen Ländern in Bonn trafen. Denn obwohl die Europäische Gemeinschaft bisher ausschließlich als Wirtschaftsgemeinschaft konzipiert war, betrieb sie doch — und ohne Rechtsgrundlage — Kulturpolitik. Die Auswirkungen im Steuerrecht oder in Sachen Medien sind offensichtlich.

Doch auch mit der Neuregelung im Maastrichter Vertrag bleibt manche Frage offen. Zum Beispiel: Was ist ein deutscher Film? Diese Frage beschäftigt nicht nur ZuschauerInnen und KritikerInnen, sondern auch die EG-Kommission, wenn es um Fragen der staatlichen Filmförderung geht. Wenn Staatsknete im Spiel ist, wacht sie darüber, daß keine EG-BürgerIn wegen ihrer Nationalität diskriminiert noch die Wettbewerbsbedingungen durch einseitige Subventionen verzerrt werden. Bislang förderte die Bundesrepublik zum Teil Filme nur dann, wenn mindestens der/die Regisseur(in) Deutsche(r) war. Jetzt ist Schluß mit dieser Bestimmung, die das künstlerische Personal anderer EG-Staaten von der deutschen Förderung ausschließt. „Die Bundesregierung hat uns zugesagt, die entsprechende Regelung und weitere restriktive Bestimmungen aus dem neuen Filmförderungsgesetz zu streichen“, verkündete Frank Rawlinson von der EG-Kommission in Bonn und verwies gleich darauf, daß auch die Unkenntnis der deutschen Sprache kein Grund für den Ausschluß ausländischer SchauspielerInnen ist: „Die Medientechnik ermöglicht mittlerweile die Herstellung der Originalversion in einer beliebigen Sprache, ohne daß der gesamte Film in dieser Sprache gedreht werden muß.“

Was also bleibt der deutschen Filmförderung? Deutsch sein können Studio und Technik, der Produzent muß immerhin im Geltungsbereich der Förderung ansässig sein. Gleichwohl hielt der EG-Beamte auch einen gewissen Trost bereit: Die Medienbranche sei ökonomisch von besonderer Bedeutung und werde deshalb streng kontrolliert. In anderen Feldern, etwa bei der Förderung von BildhauerInnen, werde man kaum intervenieren. Rawlinson: „Die EG betreibt schließlich keine Kunstverhinderung.“ Diese Einschätzung ist zumindest umstritten.

Pikanterweise konzentrieren sich einige Probleme im Bereich des Diskriminierungsverbotes. Was passiert, wenn zum Beispiel ein portugiesischer Künstler nach Berlin kommt, um dort an einer lokal oder regional ausgerichteten Förderung teilzunehmen? Einmal abgesehen davon, daß er eventuell die Chancen der „Alteingesessenen“ schmälern würde, könnte er auch mit dem kulturellen Förderziel des „Europa der Regionen“ kollidieren.

Wenn denn die Wirtschaftsgemeinschaft, mithin das Geld, das Allgemeine repräsentiert und für eine ökonomische Gleichbehandlung eintritt, stehen Kunst und Kultur für das Besondere, für eine (dem Anspruch nach) unverwechselbare Lebensweise und Mentalität einer Region. In diesem Zusammenhang verweist Peter Mulder vom niederländischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Kultur auf einen weiteren Haken des Vertrags. Nach Art. 92 ist die Vergabe von „staatlichen und aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen jeder Art“ nur dann statthaft, wenn sie die Handels- und Wettbewerbsbedingungen im Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigen oder dem gemeinsamen Interesse der Mitgliedsstaaten zuwiderlaufen. Zwar werden die „Förderung von Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes“ ausdrücklich erlaubt, aber die „magische Formel“ (Mulder) von in Einklang und nicht in Einklang stehenden Beihilfen läßt manches offen. Die ersten Klagen beim Europäischen Gerichtshof sind schon anhängig.

Die Turbulenzen um den Vertrag von Maastricht haben nicht nur die Kritik am zentralistischen und antidemokratischen EG-Konzept deutlich gemacht, sondern auch auf andere Versäumnisse verwiesen. Eine Wirtschaftsgemeinschaft allein ist kaum in der Lage, so etwas wie eine europäische Identität zu stiften. Zumal das im Maastrichter Vertrag beschworene „europäische Kulturerbe“ sich kaum auf den Geltungsbereich der EG-Verträge beschränken läßt. Die „kulturelle Identität“ Europas mißt sich in anderen Grenzen. Zum anderen hat sich gezeigt, daß die Abneigung gegen das EG-Europa im Maastrichter Stil zu weiten Teilen in der Furcht vieler EuropäerInnen vor dem Verlust ihrer nationalen und regionalen Traditionen wurzelt. Derlei Ängste vor einer supranationalen anonymen Macht wird man kaum durch einen halbherzigen Bezug auf ein „Europa der Regionen“ besänftigen können. Die Wahrung der vielen kulturellen Identitäten der europäischen Regionen macht aber gerade auch auf europäischer Ebene Kulturpolitik und damit Kunst- und Kulturförderung zu einer wichtigen Querschnittsaufgabe, die nicht auf Vereinheitlichung, sondern auf Wahrung des Besonderen zielen muß. Eine für Euro-Bürokraten vielleicht schwer vorstellbare Vision, daß zu einem kulturellen Europa auch eine „positive Diskriminierung“ (Peter Mulder) gehört, die die regionale (kulturelle) Identität vor supranationalen Übergriffen schützt.