Ikone mit Pittiplatsch

■ Dem Ost-Sandmann droht eine Verjüngungskur

In Finnland heißt er „Nukku Matti“; in Schweden ist der Spitzbärtige mit dem Mondgesicht als „John Blund“ bekannt. Seit 33 Jahren streut er Kindern Sand in die Augen: der DDR- Sandmann. Mal war er mit dem Rentierschlitten in Finnland unterwegs, mal inspizierte er die NVA per Jeep. Nur wenn Walter Ulbricht seine Silvesteransprache hielt, strich man das Kapuzenmännchen vorsichtshalber aus dem Programm. Niemand sollte in dieser spitzbärtigen Märchengestalt eine Karikatur des großen Vorsitzenden sehen.

Das telegene Schlafmittel war in der DDR bei jung und alt besonders beliebt, weil das Sandmännchen zu den unpolitischen Figuren im Fernsehen zählte und eine „Puppe mit Seele“ war. Sogar Wolf Biermann gefiel die weißhaarige Fernsehpuppe mit dem konturlosen Kindergesicht— trotz Spitzbart.

Nun steht dem Sandmann eine Verjüngungskur bevor. Schließlich hat sich am Konzept der Gute-Nacht- Sendung seit dem 22. November 1959, als der Sandmann eine Woche früher als sein West-Pendant (nur noch im SWF zu sichten) zum ersten Mal auf Sendung ging, nicht viel geändert. Denn sein Schöpfer, der Regisseur und Autor Gerhard Behrendt, produzierte die Sendungen mit seinem Kollektiv — 1962 mit dem DDR-Nationalpreis ausgezeichnet — bis zur Wende im Puppenstudio in Berlin-Mahlsdorf geradezu „orthodox“. Der Sandmann, glaubt Behrendt noch heute, werde nur überleben, wenn man ihn traditionell inszeniere.

Geradezu ketzerisch ist da der Versuch der neuen Produktionsgesellschaft, jetzt mit dieser Tradition zu brechen. Statt naturalistischer Perfektion sollen in Zukunft improvisierte Sandmannszenen die Phantasie der Kinder anregen und die Sendereihe vom Mief der 50er Jahre befreien. Nur die klassischen Abendgrußgeschichten mit Pittiplatsch, Fuchs und Elster bleiben unverändert. Bäume, Fahrzeuge oder Tiere sind in den dreiminütigen Sandmann-Rahmenhandlungen, die jetzt im Auftrag von ORB, SFB, MDR und NDR neu produziert werden, nicht mehr detailgetreu nachgebildet. Der Sandmann, der mit dem Trabi durchs realsozialistische Wunderland braust, gehört der Vergangenheit an. Bäume werden nur angedeutet, Häuser phantasievoll improvisiert; Tiere dürfen auch schon mal reine Fabelwesen sein. Selbst die aufwendigen Kostüme des Sandmanns gibt es nicht mehr, nur noch die Standard-Westen in Blau oder Weinrot. Kurz: der Sandmann kehrt zu seinem Ursprung zurück und wird wieder zur unrealistischen Märchenfigur, ganz so wie er ursprünglich von Hans Christian Andersen gedacht war. Irgendwann soll sogar das Gute-Nacht-Lied neu instrumentiert werden.

Zu dem Trickfilmteam, das die neuen Episoden — zweieinhalb Filmminuten sind aus 3.750 Einzelbildern zusammengesetzt — abdreht, gehört auch Sabine Meienreis. Als Trickfilmregisseurin war sie schon zu DDR-Zeiten an der Produktion der Zubettgehgeschichten beteiligt. 1982 stellte sie einen Ausreiseantrag — seit Anfang dieses Jahres ist sie wieder an der Produktion der Sandmann-Filme beteiligt und inszeniert ihren Liebling im „freien Improvisationsstil“, so wie sie ihn auch schon vor der Wende gern auf Zelluloid gebannt hätte. Frech und unrealistisch soll es in den Episoden zugehen. Doch der „traditionelle“ Sandmann wird deshalb noch lange nicht vom Bildschirm verschwinden. Die Archive sind voll mit alten Episoden, und das Geld reicht nur für zehn neue Trickfilme jährlich. So ist selbst der Sandmann, der FDJ-Pionieren Sand in die Augen streut, unsterblich. Rüdiger Soldt