Jugend macht harte Politik

Zwei Tage quälten sich Jugendliche durch die  ■ Parlamentsarbeit der Bürgerschaft

Unter normalen Umständen wäre sofort ein Riesenaufgebot an Polizeikräften vorgefahren: Am Dienstag vormittag betritt ein Pulk von knapp 60 Jugendlichen das Hamburger Rathaus. Ihr Äußeres, lange Lockenköpfe, giftgrün-rosa gefärbte Haare, Turnschuhe und zerrissene Jeans, hebt sich drastisch von sonstigen Besuchern ab.

An der Ehrentreppe zum Bürgerschaftssaal gibt es einen Stau. Verweigern die Rathausdiener ihnen etwa den weiteren Vormarsch, oder zelebriert die Polizei eine Personalienfeststellung? Weder noch. Fein säuberlich vorbereitete Namenskärtchen werden verteilt, damit die jungen Leute untereinander wissen, mit wem sie es zu tun haben. Denn heute ist ihr großer Tag, heute findet im Rathaus eine Premiere statt. Für zwei Tage werden die 56 Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 23 Jahren nicht unbedingt Politik spielen, aber zumindest so tun, als wären sie die gewählten VolksvertreterInnen.

Das Spektakel nennt sich „Jugend im Parlament“ und findet hochoffiziell statt. Die „Parlamentarier auf Zeit“ wurden von der Schülerkammer und dem Landesjugendring ausgesucht, die Bürgerschaftspräsidentin Elisabeth Kiausch stellte Räumlichkeiten zur Verfügung, einschließlich des manchmal gar nicht so ehrwürdigen Plenarsaals, selbst die Fahrbereitschaft und der Protokolldienst der Bürgerschaft wurden eingespannt.

In der Gestaltung ihrer Arbeit waren die Jugendlichen völlig frei. Lediglich einige Vorschläge gab es, wie die Arbeit strukturiert werden könnte: die Wahl eines Präsidiums und Einsetzung von Fachausschüssen. Ansonsten wurden sie nahezu hilflos allein und sich selbst überlassen. Und das war gut so. Denn besserwisserisches Eingreifen von Mitarbeitern der Bürgerschaftskanzlei und Fraktionen wurde auf diese Weise vermieden.

Ein Halb-Profi unter den SchülerInnen, Azubis, Zivildienstleistenden und Jungsoldaten eröffnet die Sitzung des Jugendparlaments. Der 19jährige Geschäftsführer der Schülerkammer, Boris Lotze, leitet die Wahl des Präsidiums. Neugierig sitzen Vertreter der Fraktionen und Elisabeth Kiausch auf den Hinterbänken, als ihnen vorgeführt wird, was es bedeuten kann, wenn in einem Parlament keine Fraktionen sitzen, sondern eigenständige und selbstdenkende Menschen.

Die Wahlurnen auf dem Tisch des Protokollführers bleiben unbeachtet, die Wahl des dreiköpfigen

1Präsidiums findet offen per Handzeichen statt. Auch die Diskussion über die Themen, mit denen sich die Ausschüsse befassen sollen, verläuft ohne ideologische Borniertheit und parteipolitisches Taktieren. Es wird schlicht und einfach das auf die Tagesordnung gesetzt, was ihnen wichtig ist. Gewalt gegen Ausländer, Umweltschutz, Schule und Beruf, Politik ganz allgemein, Medien und schließlich Verkehr.

Die Ausschußarbeit ist hart. Sieben Stunden stehen zur Verfügung. In der Lobby der Bürgerschaft hängt eine große Tafel, auf der auch Kritik artikuliert werden darf. Nur zwei Bemerkungen sind darauf zu lesen: „zu wenig Zeit“, und

1„wo bleibt der Kuchen?“. Schnell haben sie sich auch an die Privilegien des Abgeordnetendaseins gewöhnt. Aber der Zeitmangel wird immer wieder angeführt, wenn Ausschüsse nicht ganz fertig wurden oder die Vorlagen nur oberflächlich formuliert waren.

Was unter diesen Bedingungen dem Plenum gestern nachmittag vorgelegt wird, bringt selbst „Polit- Profis“ zum Staunen. Anke Kuhbier (SPD) ist vor Freude ganz aus dem Häuschen: „Was die im Schulausschuß diskutiert haben, ist die reinste Revolution“. Gesamtschule für alle, offener Unterricht, Berichtszeugnisse, Schule ohne Leistungsdruck — so lauten die Forderungen. Auch Wolfgang Bodeit (FDP)

1ist beeindruckt, er war Gast im Ausschuß „Gewalt gegen Ausländer“: „Eine sehr differenzierte Diskussion, ohne jeden Anflug von rechten Positionen“. Hier lautet einer der Beschlüsse: Beibehaltung des Asylrechts, stattdessen eine Einwanderungsregelung.

Von den Jugendlichen wurde diese Veranstaltung ausgesprochen ernst genommen, und sie wird auch ein Nachspiel haben. In absehbarer Zeit wird die „richtige“ Bürgerschaft die Ergebnisse diskutieren. Und dann findet eine gemeinsame Bürgerschaftssitzung statt, auf der die Jugendlichen nicht nur zuhören, sondern auch mitreden dürfen. Hoffentlich vor vollem Haus. Norbert Müller