Tragik in den Beinen, Träume in den Händen

Bei Daniel Morgenroth sitzt der zweite Rang in der ersten Reihe  ■ Von Petra Kohse

Er ist 28 Jahre alt und spielt in Deutschlands derzeit wohl interessantestem Theater eine Hauptrolle nach der anderen. Dennoch ist Daniel Morgenroth der Erfolg, den er gleich in seinem ersten Engagement im Deutschen Theater Berlin hat, nicht zu Kopf gestiegen. Der Erfolgreiche tut sich natürlich leicht damit, den Medienrummel geringzuschätzen, aber seine realistische Haltung gegenüber medialen Gütesiegeln ist glaubhaft: an einem Tag werde das Deutsche Theater zum „Theater des Jahres“ gekürt, am nächsten prämiere man „den besten fettfreien Joghurt“.

Kritiker sind „verlernte Zuschauer“, behauptet er, die wenigsten machten sich die Mühe mitzuvollziehen, was das Ensemble in dreimonatiger Probenzeit erarbeitet hat. „Das Theater kann ohne Kritiker leben.“

Obwohl ich diese Einschätzung nicht teile, kann ich mich der zwingenden Logik seines Vorwurfs nicht entziehen. Sie, die Kritiker nämlich, „schreiben, der oder der sei immer gleich.“ Schlecht beobachtet, findet Morgenroth: „Sie sind ja selbst immer gleich“.

Mit Haut und Haaren hat sich Daniel Morgenroth dem Theater verschrieben, beim Film oder Fernsehen werde mit den Schauspielern nicht gearbeitet. Und arbeiten will er. Und zwar so lange, bis ihn die psychische oder physische Überlastung zu einer Pause zwingt. Lange Probenzeiten oder finanzielle Fragen spielen keine Rolle, sofern ihn die Aufgaben fordern.

Bodenständig und engagiert sind diese Überzeugungen. Und ebenso ist seine Darstellungskunst. Daniel Morgenroth ist ein ungemein körperlicher Schauspieler. Als Ibsenscher Peer Gynt springt, rollt, hüpft und schwankt er in Friedo Solters Inszenierung über die Bühne, die Hüfte steif, immer leicht in den Knien und die Knöchel nach außen gedrückt. Morgenroth erzählt die Tragik dieser Figur sozusagen mit den Beinen: Acker und Felsen seiner norwegischen Heimat scheint der Weltreisende Gynt selbst in der Wüste noch unter den Füßen zu spüren. Und diese Heimat hat ihn, den träumerischen Nichtsnutz, verstoßen. Nirgends auf Erden faßt er daher festen Tritt, sicher steht er nur im Gyntschen Kaisertum, dem Wolkenreich der Phantasie.

„Ich mache alles mit den Beinen“, sang einst Curt Bois. Im Falle des Morgenrothschen Gynt muß man ergänzen: und den Rest mit den Händen. Abgeknickt und mit gespreizten Fingern, drehen sie sich immerzu ruckweise um ihr machtloses Gelenk. Ob sie Peer durch die Haare fahren, bei Erzählungen die Luft durchpflügen oder nervös die Hose zerknautschen, allzeit in Bewegung, sind die Hände der eigentliche Motor einer Figur, die nach ihren Träumen greift, um sie sich in die Tasche zu stecken — und doch immerzu ins Leere faßt.

Nahezu mit Gebärden allein zeichnet Morgenroth auch seinen herrlich pubertären Wetter vom Strahl im Kleistschen „Käthchen von Heilbronn“ (Regie: Thomas Langhoff). Hinter einer abrupten und zackigen Gestik, hinter kernigen Ritterposen camoufliert er die jugendliche Unsicherheit des Grafen, und wenn das zum Schutz vor echten Gefühlen nicht ausreicht, stürzt er in die Denker-Pose: die Schultern fallen nach vorn, ein Arm bewehrt die Brust, der Handrücken des anderen stützt wahlweise Kinn oder Stirn.

Doch ach, es ist eine Pose nur: Morgenroth zeigt keine Geistes-, sondern Tatmenschen. Nichts an seinem Spiel ist fließend oder elegant, nichts zögernd oder intellektuell. Kein Hamlet, sondern ein Karl Moor! Die Stimme dröhnt, die Augen rollen und die Stirn legt sich in Falten. Hier wird gespielt, daß die Kulissen seufzen und der zweite Rang in der ersten Reihe sitzt. Aber all das nicht ohne Ironie: Nie ist Morgenroths Pathos schwülstig, nie will die Entschlußkraft seiner Helden wirklich heroisch sein. Er chargiert zuweilen, ohne den Charakter zu verlieren, er zeigt, daß seine Figuren selbst nur Rollen spielen.

Ab heute abend ist Morgenroth in Hugo von Hofmannsthals „Turm“ zu sehen. Die eigentliche Premiere hat bereits im Rahmen der Wiener Festwochen stattgefunden. In der österreichischen Adaption des Calderón-Stoffes „Das Leben ist Traum“ verkörpert Morgenroth den Prinzen Sigismund. Sein Vater verstößt ihn, weil ihm prophezeit worden war, daß sein Sohn ihm einmal den Fuß in den Nacken setzen werde. Als sich die politische Fahne dreht, zerrt man den Sigismund aus seinem Verlies und ernennt ihn zum Helden einer Volkserhebung, die von machtgierigen Pro-forma-Demokraten zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird.

Aber die Pappnase ist gar keine. Der verstoßene Sohn hat aus den sozialistischen Lehren des ihm zum Kerkermeister bestellten Julian eine pazifistisch-anarchistische Haltung gewonnen. Er verweigert sich.

Diese Kaspar-Hauser-Figur ist in Thomas Langhoffs Regie sehr statisch angelegt. Vor allem über die Stimme müßte Morgenroth zeigen, wie Sigismund allmählich die Welt erfährt, wie er sich von seines Lehrers Willen zur Macht distanziert und lieber stirbt, als sich vereinnahmen zu lassen. Ein „guter“ Mensch ist dieser Prinz, zu gut für diese Welt. Doch Morgenroths Ton ist von vornherein eigentlich nur pampig — zu selbstbewußt für einen, dessen Bewußtsein sukzessive erwacht.

Allein die halb autistische, halb trancehafte Körperarbeit überzeugt; bewegt er sich nicht, so vergißt man schon fast seine Anwesenheit auf der Bühne, jedenfalls auf der Probe.

Daniel Morgenroth schätzt diese Rolle sowie auch seinen Regisseur sehr. Die Mitarbeit des Schauspielers an der Rolle sei obligatorisch, bloßer „Erfüllungsgehilfe“ der Regie will er nicht sein. Frank Castorf interessiert ihn, wie der den Text fleddert und assoziativ bebildert, und gerade weil dessen Klassiker-Inszenierungen einmal mehr und einmal weniger gelingen.

Die moderne deutsche Dramatik empfindet Morgenroth meistenteils als „verdorrten Acker“, nur die Stücke Werner Schwabs nimmt er davon aus. Die Klassiker wie Kleist jedoch würden politische Impulse geben, denen man im Laufe der Arbeit „auf die Schliche kommen“ müsse. Zur Tagespolitik kann das Theater nicht Stellung beziehen, meint er. Nur einmal erlebte er einen direkten Zusammenhang zwischen Theater und Politik: als er 1989 in einer Studentenaufführung von Schillers „Don Carlos“ auf der Bühne stand und die Massen draußen „Auf die Straße“ riefen. Heute, so sagt er, könne man bestenfalls langfristige Wirkungen erzielen. Dabei sieht er durchaus die Gefahr, daß die Zuschauer, die sich im Theater mit politischen Fragen auseinandersetzen, ihr Aktionsbedürfnis dadurch auch meist schon befriedigt haben.

Ambitionen, selbst Regie zu führen, hat Daniel Morgenroth derzeit nicht. Dazu spielt er einfach zu gerne. Natürlich gibt es auch Inszenierungen, in denen er nicht so überzeugt mitwirkt. Sein Damis in Anselm Webers „Tartuffe“ zum Beispiel schleicht in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zäh und uninspiriert über die Bühne. Für einen Schauspieler, der damit mehrmals im Monat vor das Publikum trete, gebe es zwar Modulationsmöglichkeiten, sagt Morgenroth, aber: „Man kann aus einem Schwein kein Rennpferd machen. Höchstens ein schnelles Schwein.“

Daniel Morgenroth, der mit dem Peer Gynt gleich zu Anfang seiner Karriere eine Traumrolle bekam, hat keine speziellen Rollenwünsche. Aber ich wünsche mir, ihn irgendwann, wenn es mal etwas leichtes sein darf, an der Riesenschaukel zu sehen, als „Liliom“ in Molnars derb- verträumter Galgenvogel-Romanze.