Ernst Köhler: Publikumsbeschimpfung

■ Wer auf militärisches Eingreifen verzichtet, handelt verantwortungslos

Mich beschäftigt eine eigenartige Voreingenommenheit in den Diskussionen über eine angemessene Interpretation der Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien. Ich habe sie vor allem bei Gesprächspartnern beobachtet, die sich meines Wissens als politische Oppositionelle begreifen. Je weiter links eine/r steht, desto massiver die Voreingenommenheit.

Man reist nach Kroatien und versucht, sich vor Ort ein Bild von den Zuständen dort zu machen. Aber man kommt nicht an damit. Es sei denn, ich kann von einem triumphierenden Faschismus berichten. Oder mindestens von einem Rechtsruck, dann treffe ich auf wissende Augen und ein verständnissinniges Nicken. Obwohl es gar keinen Rechtsruck in Kroatien gibt. Die Paraga-Partei hat bei den Wahlen Anfang August nur etwa die Hälfte der Stimmen der Rechtsradikalen von Baden-Württemberg gewonnen.

Umgekehrt spreche ich im Fall von Serbien am besten überhaupt nicht von Faschismus und völkischer Gewaltpolitik. Dann bin ich glaubwürdig. Obwohl ich offensichtlich ein Lügner bin, denn inzwischen sind die serbischen Massenvertreibungen und die Massenmorde in den Lagern und außerhalb der Lager ja in der ganzen Welt bekannt. Was ist das für eine Haltung, die diese Enthüllungen zu ignorieren oder zu tabuisieren oder — etwa durch den Hinweis auf die Katastrophe in Somalia — zu relativieren sich bemüht?

Ich habe in diesen Debatten kaum je ein klares Wort über den Charakter der serbischen Politik gehört — dafür viele nebulöse Behauptungen über die serbischen Volksmassen, die im Grunde ihres Herzens ganz anders dächten. Es sind dies krampfhafte Bemühungen, Serbien zu schonen. Die Belgrader Opposition erscheint in dieser Optik als vielversprechende Gegenkraft. Nach meinen Informationen ist diese sogenannte Opposition kaum weniger nationalistisch und großserbisch eingestellt als das Milosevic-Regime selber. Das serbische Kolonialregime im Kosovo ist kein Thema für diese Gruppierungen, und die Verantwortung Serbiens für den Krieg schon gar nicht. Was ist eigentlich ein Thema für diese Opposition? Zoran Djindjic, der brillante, weltläufige junge Mann in der Oppositionsführung, plädiert für die „Kantonisierung“ Bosnien-Herzegowinas. Was ist da der Unterschied zur Politik Karadzics?

Die eigentliche Verantwortung für diesen Krieg trägt der Angegriffene — das war die These meines idealtypischen Oppositionellen, solange die Kroaten die Angegriffenen waren. Und manchmal auch noch über diese Phase des Krieges hinaus. Hätten die Kroaten sich nämlich weiterhin dem Belgrader Machtanspruch untergeordnet, wären sie auch nicht angegriffen worden. Inzwischen sind freilich die bosnischen Muslime die Angegriffenen, da funktioniert die Sophistik nicht mehr so einwandfrei. Die Muslime haben ja bis zuletzt an Jugoslawien festgehalten, und Izetbegovic hat im Unterschied zu Tudjman konsequent auf den citizenship-state hingearbeitet: auf einen Staat, der allen Bewohnern seines Territoriums alle politischen Rechte sichern würde. Daraus läßt sich schlecht eine Bedrohung für die bosnischen Serben ableiten.

Ich nehme niemandem ab, daß er jetzt überhaupt nichts mehr versteht. Man soll gefälligst zugeben, daß man nicht verstehen will. Was sollte beispielsweise an der Lage Sarajewvs verwirrend, undurchsichtig oder übermäßig komplex sein? Es gibt die Belagerer, und es gibt die Belagerten.

Wenn ich Angreifer und Angegriffene sauber auseinanderhalte, wie kann ich dann noch für das Waffenembargo sein? Es trifft ja die schlechtbewaffneten Truppen Bosnien-Herzegowinas ebenso wie die serbische Armee mit ihren unerschöpflichen Arsenalen an schweren Waffen. Ich war noch niemals für die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet. Kann ich denn hier eine Ausnahme machen? Muß ich dann nicht demnächst wieder eine Ausnahme machen? Ich gerate hier in ein schier unauflösliches Dilemma. Da ist es ja wohl verständlich, daß ich es lieber erst gar nicht so weit kommen lasse. Die Sprache erlaubt es mir. Die Sprachregelung von den „beiden Kriegsparteien“, die sich da kompromißlos und fanatisch gegenüberstehen, löst mein Dilemma auf.

Jedermann behauptet steif und fest, seine Position verdanke sich seiner Analyse. Aber es kommt auch schon einmal vor, daß sich meine Analyse meiner Position verdankt. Ich kann aus grundsätzlichen Erwägungen keinesfalls für eine militärische Intervention der USA und der anderen Großmächte gegen ein kleines Entwicklungsland eintreten. Ich würde mich selbst aufgeben, wenn ich es täte. Also darf ich keinesfalls herausfinden, daß eine solche Intervention mittlerweile die einzige Möglichkeit ist, das kleine balkanische Entwicklungsland in seinem Vertreibungs- und Vernichtungskrieg zu stoppen. Solange ich denken kann, habe ich mich gegen den Imperialismus der USA und des Westens überhaupt gestellt. So will ich es auch weiter halten — meine Analyse wird mich nicht daran hindern. Sollte sie mich in die Nähe der gefährlichen Einsicht bringen, daß die serbischen Politiker und Militärs gegenwärtig nur noch die Sprache der militärischen Gewalt verstehen, werde ich das Steuer herumreißen.

Bleiben wir vielleicht doch einen Moment bei dieser Möglichkeit. In Zagreb haben wir neulich die These gehört, „zwei ganze Bomben, zwei symbolische Bomben auf serbischen Boden“ könnten Milosevic möglicherweise bereits zu einem Kurswechsel veranlassen. Das mutet wie reines Wunschdenken an. Inzwischen hat man uns ja gelehrt, uns auf die Perspektive eines „neuen Vietnam“ oder eines neuerlichen jugoslawischen Partisanenkrieges einzustellen. Wenn das schon die Militärs sagen, die sonst doch immer die ersten sind zuzuschlagen...

Freilich gibt es in Bosnien kein Öl, das trägt vielleicht auch zur Wiederbelebung des Vietnam-Traumas bei. Aber sind diese Vergleiche und Parallelen überhaupt sinnvoll? Die kommunistischen Partisanen in Jugoslawien standen historisch am Anfang der Epoche des Sozialismus in Osteuropa — das heutige Serbien ist ein isoliertes Überbleibsel dieser Epoche. Das Vietnam der sechziger und siebziger Jahre hat für seine Befreiung gegen den Imperialismus der USA gekämpft — das Serbien von heute kämpft für seinen Imperialismus gegen die Freiheit und das Existenzrecht anderer Völker.

Viel plausibler als dieses von ganz anderen historischen Situationen abgezogene oder ausgeliehene Bild einer unbeirrbaren Kampfbereitschaft scheint da doch der platte Hinweis auf das Ungleichgewicht der Waffen. Der serbische Heroismus lebt von der Überlegenheit der serbischen Waffen. Und er lebt von der offenbar durch nichts zu irritierenden Appeasement-Politik Europas. Es mag sein, daß der serbische Kampfgeist auch von einer spezifischen Selbstglorifizierung oder besser: von einer hermetischen Selbstbezogenheit lebt, für deren volles Verständnis man auf die Geschichte der Staatenbildung in Südosteuropa zurückgreifen muß. Aber „politische Hysterie“ dieses Tpys (István Bibó) ist eine durchaus labile Geistesverfassung. Es ist sehr fraglich, ob sie den Schock und die Demütigung eines militärischen Schlags von außen überleben würde. Es gibt schon jetzt Zeichen der Demoralisierung in der serbischen Gesellschaft — Anzeichen des Frusts, einer gewissen Ernüchterung, der Angst vielleicht, die freilich nicht mit den immer noch seltenen Manifestationen der Betroffenheit über das Schicksal der anderen verwechselt werden dürfen.

Man sollte sich zudem davor hüten, Milosevic zu unterschätzen. Er ist — auch das steckt in der Zwei- Bomben-Theorie — nicht nur ein Exponent des serbischen Chauvinismus (so wie etwa Dobrica Cosic), sondern ein Machtstratege ohne ideologische Bindungen. Er wäre nach dieser Einschätzung sehr wohl fähig, die bosnischen Serben einfach fallen zu lassen...

Es sei dahingestellt, ob frühzeitige und angemessene politische Sanktionen — Sanktionen bereits gegen die Entrechtung der Kosovo-Albaner in den achtziger Jahren — den serbischen Eroberungskrieg verhindert hätten. Mir geht es um eine Denkungsart, die solche Sanktionen immer abgelehnt hat; die sich sogar immer geweigert hat, die Politik Serbiens auch nur beim Namen zu nennen — und die sich jetzt, da alle diese Chancen vertan sind und man kaum mehr ein anderes wirksames Druckmittel erkennen kann als die militärische Gewalt, schon wieder verweigert und diesen extremen Schritt nicht einmal ernstlich diskutieren will. Das nenne ich Verantwortungslosigkeit. Selbstverständlich würde ich jeden akzeptieren, der die ganze Zeit über für politische Sanktionen gegen Serbien öffentlich gestritten hätte und auch jetzt noch darauf setzte.

Das Versagen hat seltsamerweise etwas mit dem Bemühen um Standfestigkeit zu tun. Der Verrat an den Opfern des Krieges entspringt einem höchst noblen Motiv: sich selber treu bleiben im Umbruch der Zeiten. Der Balkan mag ja komplex sein, aber das oppositionelle Bewußtsein ist es auch. In Wahrheit lauten die Fragen allesamt ganz anders. Gestern war die eigentliche Frage nicht: Warum will Kroatien die Unabhängigkeit? Sondern: Warum unterstützt Deutschland die kroatische Unabhängigkeitspolitik? Und heute lautet die eigentliche Frage nicht: Wer ist der Aggressor im zerfallenen Jugoslawien, und wie ist er zu stoppen? Sondern: Welche Ziele verfolgt Deutschland mit seiner scharfen Frontstellung gegen Serbien?

Ich bin auch nicht glücklich über die serbischen Anleihen bei den Nazis. Aber ich kann schlecht in das gleiche Horn tuten wie meine Regierung. Ich gehe auf Distanz zu meinem Entsetzen über diese Nazimethoden. Man kann diese Nazimethoden schließlich keinesfalls mit den Methoden der Nazis vergleichen. Ich bestehe auf der Unvergleichlichkeit der Nazimethoden der Nazis. Ich muß überhaupt wegkomen von dieser ganzen Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und der Gefühle.

Die Nachkriegszeit ist vorbei. Die Epoche des leisetreterischen und primär ökonomischen Imperialismus ist abgeschlossen. Deutschland wird politisch eine ganze andere Rolle spielen. Die Wende in Osteuropa eröffnet neue Einflußzonen — alt- neue, besser gesagt. Der Zerfall des jugoslawischen Staates paßt viel zu gut in dieses hegemoniale Konzept, als daß sich der Verdacht kräftiger bundesdeutscher Mithilfe so leicht zerstreuen ließe. Man sieht den Untergang dieses Staates mit ganz anderen Augen, wenn man sich bewußt macht, welchen Nutzen Deutschland daraus ziehen wird. Man kann von den Serben denken, was man will — aber das sehen sie, und sie sagen es ja Gott sei Dank auch. Was zählt da schon das Selbstbestimmungsrecht der Kroaten? Erstens sind die sowieso nationalistisch verseucht — auch das ja nichts Neues übrigens. Und zweitens verschleiert und verkleistert dieses ganze Brimborium doch nur die fundamentale Tatsache der hoffnungslosen ökonomischen Abhängigkeit dieses und aller anderen neuen Zwergnationalstaaten.

Das ist die Entwertung der Kritik am „small-power-imperialism“ Serbiens (ein Ausdruck von Hugh Seton-Watson für das Osteuropa der Zwischenkriegszeit) durch Imperialismuskritik, die uns als politisch und moralisch reagierende Subjekte paralysiert, eine Form von historischem Materialismus, der den kleinen postkommunistischen Ländern die Möglichkeit politischen Handelns glatt abspricht.

Aber das sind Feinheiten. Was man wirklich vermißt, sind empirische Anhaltspunkte. Die Beweise für den großserbischen Expansionismus haben wir. Aber wo sind die Beweise für das deutsche Großmachtstreben in Südosteuropa? Schließlich gibt es auf dem Balkan eine — angesichts dieser neudeutschen Horrorvision nachgerade tröstlich und beruhigend wirkende — Konkurrenz der Imperialismen.