Voll unter Strom

Elektromagnetische Felder verunsichern immer mehr Wissenschaftler. Machen diese Felder krank oder sind sie völlig harmlos? Auch die häuslichen stromfressenden Geräte und Leitungen schaffen ein beunruhigendes Elektroklima.  ■ Von Bärbel Petersen

Der Zeiger des Meßgeräts schlägt plötzlich aus. „Hier muß eine elektrische Leitung sein,“ erklärt Achmed Khammas und zeigt auf die Wand im Flur, an der ein Spiegel hängt. „Was bedeutet das?“ fragt Marianne W. mißtrauisch. „Das Gerät zeigt elektromagnetische Felder an und diese können möglicherweise krank machen.“ Seit einigen Jahren warnen Buchautoren und Journalisten vor möglichen schlimmen gesundheitlichen Schäden. Daß ionisierende Strahlen, etwa aus Röntgengeräten und AKWs, gefährlich sind, ist unumstritten. Doch auch die nichtionisierenden Strahlen, wie sie aus Hochspannungsleitungen, Radaranlagen, Computern, Sendetürmen für den Mobilfunk, Fernsehen und Radio oder der häuslichen Stromversorgung kommen, schüren neue Ängste vor gesundheitlichen Schäden. Deshalb hat Khammas gemeinsam mit dem Meteorologen Bernhard Harer und dem Medienwissenschaftler Pit Schultz eine Arbeitsgruppe für Bio-Systemtechnik, Fachgruppe Esmog, gegründet, um diese nichtionisierenden, elektromagnetischen Felder aufzuspüren und möglichen gesundheitlichen Folgen vorzubeugen. Im Flur sorgt plötzlich noch etwas für Unruhe auf der Skala. Der Stromzähler bringt den Zeiger des handgroßen Meßgeräts fast zum Überschlag. „Kein Wunder“, erläutert Khammas, „überall, wo Strom fließt, gibt es elektrische und magnetische Felder, kurz elektromagnetische Felder. Elektrische Felder umgeben uns aber auch, wenn kein Strom fließt und nur eine elektrische Spannung anliegt.“

Elektrosensibilität und Elektrostreß

Diese allgegenwärtigen, unsichtbaren Felder scheuchen Wissenschaftler immer mehr auf. Allein in diesem Jahr treffen sie sich schon zum dritten Mal zum „Brennpunkt Elektrosmog“, in dieser Woche in Köln. Elektrosensibilität, Elektrostreß, Elektrophobie oder kurz „Esmog“ heißen die Schlagwörter, mit denen die Wirkung der elektromagnetischen Felder umschrieben wird. Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit, Erschöpfungszustände, Migräne, Augenerkrankungen bis hin zu Krebs- und Herzinfarktrisiken werden immer mehr den gesundheitlichen Folgen der Elektrotechnik zugeschrieben. In der Bundesrepublik versuchen Wissenschaftler seit fünfzehn Jahren, biomedizinische Nebenwirkungen der Elektrizität zu beweisen. Doch die Ergebnisse sind widersprüchlich. US-amerikanische Forscher haben herausgefunden, daß unser Auge sensibel auf elektromagnetische Felder reagiert. Über das Auge gelangen die Strahlungen ins Gehirn. Dort, genauer in der Zirbeldrüse, beeinflussen sie die Bildung des Hormons Melatonin, daß eine krebshemmende Funktion hat. Bei Ratten haben schwache elektromagnetische Felder die körpereigene Produktion von Melatonin herabgesetzt. Sicher ist auch, daß die Felder im menschlichen Körper Wechselströme hervorrufen, die über Reibungsverluste zu einer Erwärmung des Gewebes führen. Wissenschaftler vermuten auch, daß diese künstlich erzeugten Ströme den natürlichen Ionenaustausch überlagern, der zwischen den Körperzellen stattfindet und der von den Zellmembranen gesteuert wird. Zelluntersuchungen haben ergaben, daß elektromagnetische Felder die elektrophysiologisch wichtigen Transportmechanismen für Calcium-Ionen, beispielsweise in die Nervenzellen, beeinflussen. Dieser veränderte Stoffwechsel könnte Zellwucherung hervorrufen, die eine tumorbegünstigende Wirkung haben.

Marianne W. steht vor dem kleinen Fernseher, neben ihr die Stereoanlage, und kann es gar nicht glauben: Selbst noch anderthalb Meter um die Geräte herum registriert das Meßgerät magnetische Felder, der Zeiger pendelt zwischen 80 und 100 Milligauß. In Tesla, dem standardisierten Maß der magnetischen Flußdichte umgerechnet, bedeutet das 0,000.008 bis 0,000.01 Tesla (Volt mal Sekunde pro Quadratmeter). Dieser Wert erschüttert die Wohnungsinhaberin nicht mehr. „Das kann man doch gar nicht spüren“, stellt sie erleichtert fest. „Es handelt sich hier um ein sehr schwaches magnetisches Feld im Gegensatz zu den starken von Hochspannungsleitungen und Sendetürmen ausgehenden Feldern“, entgegnet der Esmog- Spurensucher. „Aber wir sind täglich permanent diesen schwachen Feldern ausgesetzt.“ In unmittelbarer Nähe des Fernsehapparates hüpft der Zeiger sogar noch über den Grenzwert des roten Bereichs hinaus. Erst als das Gerät ausgeschaltet ist, schlägt er auf die blaue Seite zurück. Auch um den Kassettenrecorder mit Netzteil zeigt das Meßgerät schwache magnetische Felder an, die erst weniger werden, als der Stecker herausgezogen wird.

Heizdecken und Haartrockner

Die Ausbreitung der elektrischen und magnetischen Felder hat eigene Gesetzmäßigkeiten. So nimmt die Stärke des Feldes mit wachsender Entfernung zum Gerät oder einer Leitung schnell ab, beispielsweise wird die magnetische Flußdichte bei einem Abstand von 30 Zentimetern um das hundertfache weniger. Trotzdem dringen magnetische Felder ungehindert in den menschlichen Körper ein, während elektrische Felder durch Gegenstände abgeleitet werden können. Die meisten elektromagnetischen Felder schwanken rhythmisch. Ihre Frequenz wird in Schwingungen pro Sekunde, kurz Hertz, gemessen. Das Stromversorgungsnetz der Bundesrepublik ist mit einer Frequenz von 50 Hertz ausgelegt. Damit gehört es zum niederfrequenten, zum extremely low frequency Bereich, der Frequenzen von 3 bis 3000 Hertz umfaßt.

Inzwischen hat Khammas in der Küche gemessen. Kühlschrank und Handmixer scheinen den Zeiger nicht zu erregen. Aber als er in die Nähe der Abzugshaube kommt, die gerade lautstark vor sich hinbrummt, schlägt er fast bis zum Skalenende aus. „Hier fließen elektromagnetische Felder, die beim Kochen den Kopf treffen“, resümiert er. Beim Einschalten eines Elektroherdes können in unmittelbarer Nähe der Heizplatte vorübergehend Flußdichten von etwa einem Millitesla auftreten. In der Bundesrepublik sind die Grenzwerte zum Schutz der allgemeinen Bevölkerung für magnetische Felder mit 0,5 Millitesla und für elektrische mit 20.000 Volt pro Meter festgelegt. Der internationalen Strahlenschutzkommission ist das noch viel zu hoch angesetzt. Sie fordert für Frequenzen von 50/60 Hertz wesentlich niedrigere Werte von 0,1 Millitesla beziehungsweise 5000 Volt pro Meter.

Marianne W. ist wieder verunsichert: „Überall in der Wohnung stehen elektrische Geräte, die natürlich nicht ohne Strom funktionieren. Schaden sie der Gesundheit, sobald sie in Gebrauch sind?“ Der Experte schüttelt den Kopf: „Noch haben epidemiologische Untersuchungen keine eindeutigen Beweise erbringen können, daß die Felder biomedizinische Wirkungen haben. Aber kein Mensch kann sich vor diesen Strahlen verstecken, und sie werden auch individuell unterschiedlich wirken.“ Um herauszufinden, ob jemand elektrosensibel ist, schlägt er vor, einen Netzfreischalter (etwa 120 Mark) in den Sicherungskasten einzubauen. Er trennt den gesamten Stromkreis vom Netz, solange kein Strom gebraucht wird und läßt ihn erst wieder zu, wenn die Lampe angeknipst wird oder der Kühlschrank nachts Strom abfordert. So ließe sich feststellen, ob mögliche Symptome wie Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Nervosität mit den Feldern zusammenhängen. Dann sollte generell darauf geachtet werden, daß der Abstand zu den Geräten und Leitungen möglichst groß gehalten wird: ein Meter zu Leitungen, zwei Meter zu Elektrogeräten und Leuchtstoffröhren und vier Meter zum Farbfernseher. Bei Nichtgebrauch immer den Stecker herausziehen, rät Khammas. „Der geforderte Abstand zu Elektrogeräten läßt sich aber nicht immer einhalten“, entgegnet Marianne W., „wie bei Rasierapparaten, elektrischen Zahnbürsten, Bügeleisen oder Staubsaugern.“ — „Solche Geräte zeigen aber auch, daß die Elektrifizierung unseres Haushalts immer mehr ausufert“, kontert Khammas. Der Bioklimatologe Andras Varga vom Hygieneinstitut der Universität Heidelberg hat gemessen, daß Rasierapparate 10 Zentimeter von der Haut entfernt immer noch eine magnetische Flußdichte von 100 Mikrotesla haben, gefolgt von der elektrischen Zahnbürste mit 90 und dem Staubsauger mit 60 Mikrotesla.

In den USA sorgten Heizdecken für Aufsehen. Wissenschaftler haben im vergangenen Jahr herausgefunden, daß Kinder zweieinhalbmal so häufig an Hirntumoren erkrankten, wenn sich ihre Mütter während der Schwangerschaft mit elektrischen Heizdecken wärmten. Andere sehen in Haartrocknern ein elektrisches Übel. Das häufige An- und Abschalten und vor allem die unmittelbare Nähe zum Kopf, besonders zum Auge, könnten gesundheitliche Folgen haben.

Sicherheitsabstände zum Kopf einhalten

Auch die seit einiger Zeit heftig umstrittenen Mobilfunktelefone, bombardieren den Kopf mit einer hohen Strahlendosis — vor allem Geräte des D-Netzes, bei denen die Sendeantenne direkt am Sprechgerät angebracht ist. Außerdem sind die hochfrequenten Felder in unmittelbarer Nähe der Antenne ungleichmäßig verteilt. Es ist von Wissenschaftlern belegt, daß sogenannte hot spots entstehen, in denen besonders viel Energie aufgesaugt und das Gewebe erwärmt wird. Folge: mögliche Erwärmung der Körpertemperatur, Stoffwechselstörungen und Schwächung der Immunabwehr. Das Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter empfiehlt deshalb, bei Sendeleistungen zwischen 0,5 und 20 Watt einen Sicherheitsabstand von vier bis 50 Zentimetern zur Antenne einzuhalten. Dennoch bedeutet das keine Entwarnung für das gewöhnliche Telefon. Diese elektromagnetischen Felder breiten sich bis zu einem Meter aus. Am Bett hat ein Telefon also genau so wenig zu suchen wie ein Radiowecker mit Netzkabel. Der bestrahlt den Schlafenden stärker als die Hochspannungsleitung hundert Meter weiter. Kinderzimmer sollten nicht neben Steigleitungen, Warmwasserspeichern oder Stromzählern liegen und Säuglinge nicht neben dem elektrischen Nachtspeicherofen gebettet werden, rät das Bundesamt für Strahlenschutz.

„Jetzt weiß ich zwar, wie ich mich in meinen vier Wänden besser schützen kann“, sagt Marianne W., als die Messungen beendet sind, „doch den hochfrequenten Feldern von Sendeanlagen, Richtfunk- und Radarstationen bin ich nach wie vor hilflos ausgeliefert.“ Khammas sieht darin ebenso mögliche Gefahrenquellen für unseren Körper. Solange Wissenschaftler noch im Nebel stochern und unwiderrufliche wissenschaftliche Beweise über gesundheitliche Schäden durch elektromagnetische Felder fehlen, besteht kein Grund zur Panik, aber schon lange nicht zur Entwarnung.