■ Herbst Zeitlos
: "Ich fühl' rein gar nix mehr. Es muß Herbst sein!"

HERBSTZ E I T L O S »Ich fühl' rein gar nix mehr.

Es muß Herbst sein!«

Stefanie Ambs, 21 J., Goldschmiedin

Ich muß sagen, daß ich den Herbst nicht sonderlich mag. Deshalb fahre ich auch nach Afrika. Der Herbst ist für mich wie eine negative Einstimmung auf den Winter. Es wird kalt, weniger fröhlich, die Blumen blühen nicht mehr. Alles ist am ausklingen. Ich mag nicht so sehr die herbstlich gefärbten Blätter, deren Austrocknen und Herunterfallen. Ich weiß, es kommen die grauen tristen Tage, an denen keiner rausgeht. Das deprimiert mich. Das einzige, das ich mag am Herbst, sind die Kastanien.

Ich finde den Herbst eine schöne Jahreszeit. Mich stört nur, daß er auf den Winter zuführt, und den kann ich überhaupt nicht leiden. Das Tolle am Herbst ist, daß er so füllig ist. Jedes Jahr erinnert er mich an meine Kindheit. Wir haben sehr viele Spaziergänge gemacht und Pflaumen und Äpfel gegessen. Das fand ich immer schön. Ich finde den Botanischen Garten jetzt besonders schön, es duftet so herrlich, und die Blätter sind so schön bunt. Im Sommer war es manchmal recht scheußlich hier.

Seit einigen Tagen merke ich eine Veränderung. Ich stelle eine Verlorenheit in meinen Gedanken fest. Ich glaube, es liegt am Herbst. Wenn der Winter schon fast vor der Tür steht, bin ich fleißiger. Die Sonne kann mich nicht ablenken. Ich schließe mich in mein Zimmer ein und lerne. Ich bin Philosophiestudent und liebe die Verborgenheit. Es würde mir nicht gefallen, wenn das ganze Jahr über Frühjahr wäre. Die Kälte gibt mir die Gelegenheit, mich zurückzuziehen.

Im Herbst sieht man schon die Knospen bei den Kastanien: dick, fett und klebrig, der nächste Frühling kommt also auf jeden Fall. Über allem liegt eine Art Melancholie, aber gleichzeitig die Hoffnung. Herbst bedeutet für mich Abschied, aber niemals definitiv, nur für eine Weile. Man muß lernen, Abschied zu nehmen. Man kann das, was man hat, niemals behalten. Am Herbst gefällt mir sehr gut das Bunte. Bei den Japanern habe ich über die Ahornblätter folgenden tollen Satz gelesen: »So schön zu werden und dann zu fallen.«

Sie: Ich finde es schön, im Herbst draußen zu sein. Es gibt hier im Botanischen Garten einen japanischen Baum, den Kuchenbaum. Wenn die Blätter fallen und es feucht ist, riecht er sehr intensiv nach frisch gebackenem Kuchen.

Er: Für mich ist Herbst wie Schnitterfest: das Korn wird von der Spreu getrennt, nur das Wichtige bleibt übrig. Es ist auch eine anstrengende Zeit, weil ich vieles sterben lassen muß. Ich mache im Herbst Rückführung ins vergangene Leben, eine Meditation — ähnlich wie Schnitterfest.

Ich bin überhaupt noch nicht herbstlich gestimmt. Dazu ist es nicht kalt genug und noch zu grün. Ich finde, daß die Bäume gar nicht so tot sind, wie sie im Herbst aussehen. Obwohl das Graue und Kahle des Herbstes nicht gerade für Leben steht, habe ich keine Gedanken an den Tod. Viele Selbstmorde werden ja im Frühling begangen. Gerade dann, wenn alles blüht, wird den Menschen ihre eigene Leere klar — weiß ich alles von meinem schlauen Vater, der Psychologe ist. Umfrage: Rüdiger Soldt

Fotos: Rolf Schulten/Octopus