Alles aufgeräumt und sortiert

■ Neue, ganz besonders neue und weniger neue Musik auf den Berliner Festwochen 1992

Irgendwo war kürzlich die hübsche Bemerkung zu lesen, daß mittlerweile die Zahl der lebendigen Wissenschaftler die Summe aller toten übersteige. Wissenschaft also ist angesagt. Und alle Wissenschaftler erforschen Wichtiges, Bedeutendes oder gar Grundlegendes. Bis der Wissenschaftsgeschichtler Thomas S. Kuhn Anfang der sechziger Jahre die ehrenrührige Behauptung in die Diskussion brachte, der normale Wissenschaftsbetrieb bestehe zum großen Teil aus Aufräumarbeiten.

Die Inflation von Musik-Festivals ging ebenfalls einher mit einer Invasion von Wissenschaft in den Bereich der tönenden Kunst, sind doch einstigen schlitzorigen Impressarios längst von akademischen Kollegen aus den Managementetagen moderner Musik-Feste verdrängt. Und was machen sie da? Sie räumen auf, sortieren und ordnen. Und das am liebsten chronologisch, manchmal thematisch, oder — auch nicht komplizierter — geographisch.

Mit Prag-Berlin wurde nun dieses Jahr die geographische Kategorie für die Berliner Festwochen gewählt. Prag ist ja auch nicht weit, hat sich zudem längst als beliebtes touristisches Wochenendziel etabliert und war wohl bereits immer wichtig in der Kultur. Außerdem ist die Entdeckungsreise in den ehemaligen Ostblockländern Thema der Zeit, die ehemalige UDSSR musikalisch längst abgegrast, die Polen in der neuen Musik zu widerspenstig und in der alten längst viel zu bekannt, Bulgarien und die anderen Länder die da noch herumliegen kennt man sowieso kaum, also wird erst mal die Hauptstadt der benachbarten Tschechei aufgeräumt. An Dvorak darf erinnert werden, Janacék und Martinu, die gemäßigten Modernen kommen endlich zu gebührender Ehre, einiges an verkannten Genies aus alten Zeiten wird wiederentdeckt, und ein paar locker eingestreute Uraufführungen noch lebender Tonkünstler runden thematisch ab. Für die Unvollständigkeit der Darstellung des musikalischen Prags entschuldigt man sich im Programmheft. Für eine Unvollständigkeit sei jedenfalls gedankt: Smetanas Moldau blieb uns für diesmal erspart, obwohl sie sich doch thematisch hervorragend für ein Eröffnungskonzert am Spreebogen geeignet hätte.

Dafür mußte dann Kafka herhalten. Auch er hauste bekanntlich in Prag, leidet ebenso bekanntlich nicht an mangeldem Bekanntheitsgrad — und Bekanntes liebten Musiker immer schon zum Vertonen. Vermutlich sind sie zum einen mit ihren Klangtüfteleien viel zu beschäftigt, um sich Literaturrecherchen erlauben zu können, und zum anderen ziehen bekannte Namen auf dem Programmzettel Puplikum. Nachdem in den letzten Jahren Hölderlin boomte, die letzten Verse Rilkes schon vor Jahren in sämtlichen Stilrichtungen singbar gemacht wurden nun also Kafka (natürlich fehlen weder Joyce, noch Musil oder Celan im Liederkreis).

Aribert Reimann also erhielt den Auftrag, Kafka für die Eröffnung der Festwochen veropern, und ein hübsches Plakat, auf welchem er sein Konterfei kumpelhaft neben das des Franzls halten durfte. Und aus dessen beklemmendem Schloß-Roman macht er in bester automatisierter Kafka-Figuren-Manier eine Opern- Anordnung. Wäre da nicht vielleicht die Moldau am Spreebogen lustiger gewesen?

Die Opernhäuser solle man anzünden, hatte der junge Boulez einst geäußert, bevor er in Bayreuth zum Taktstock griff. Nun wird auch Boulez bald, anstatt jugendlich zu zündeln, seine erste Oper schreiben, Heiner Müller darf das Libretto beisteuern, hat er verlauten lassen. Also darf man Boulez vor diesem großen Wurf schon mal katalogisieren. Das beschränkte man denn aber doch nicht auf ihn ganz allein, sondern wählte das französische Komponisten-Triumphirat der späten Siebziger: Berio, Boulez und Messiaen.

Messiaen, der kürzlich verstorbene Papst des französischen Musiklebens, der mehr oder weniger aus Versehen die serielle Musik erfand, Boulez, der letztes Jahr als IRCAM- Chef abdankte, und Berio, sein von ihm verehrter Antipode, da er im Gegensatz zu ihm mehr Musik denn Texte schrieb. Aber keine Opern für die drei, sondern eine zehntägige Kammermusikreihe in der Akademie der Künste. Abends um halb elf begannen jeweils die Konzerte, »für Nachtschwärmer«, wie das Programmheft sinnreich mitteilt. Daß Nachtschwärmerei und Neue Musik selten zusammengehen und die katalogisierenden Wissenschaftler um halb elf meist im Bett liegen, zeigte sich in den ausgedünnten Zuschauerreihen.

Natürlich aber gab es Höhepunkte, Boulez' Klassiker „Structures pour deux pianos“ wurde von James Avery und Eun Ju Kim unter Ausschluß jeder Sanglichkeit erfolgreich auf Bartok-Remineszenzen untersucht, Berios Klavier-Sequenza klingt immer noch erstaunlich gut, ganz zu schweigen von dem ohnehin öfters zu hörenden Quartett auf das Ende der Zeit in seiner ungewöhnlichen Besetzung Violine, Klarinette, Cello, Klavier, wohingegen etwa Detlef Bensmann gekonnt Berios Sequenza für Saxophon als zeitraubende musikalische Platitüde entlarvte. Aber nach absolviertem Marathon stellte sich doch die naheliegende Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, statt Katalog-Konzerten gleich Katalog-CDs zu produzieren, bietet doch diese Technik die nicht zu unterschätzende Möglichkeit, diverse Stücke einfach zu überspringen.

Aber wieder die Oper: auch Georg Katzer konnte Anfang des Jahres in Berlin eine neue vorstellen. Nun aber hatte das Radio-Symphonie-Orchester unter Vladimir Ashkenazy die Uraufführung seiner Orchester- Komposition „Gloria“ in der Philharmonie übernommen. Als Janacek-Schüler integrierte sich Katzer ja überdies ins Prag-Thema. Ihm, der immer als einer der avanciertesten Komponisten der ehemaligen DDR galt, ging wohl nach all der Opernschreiberei plötzlich der Stoff aus, und so funktionierte er sein Gloria in ein völlig unerwartetes Bekenntnis zur Postmoderne um. Plakativ wird da Schönbergs Orchesterstück »Farben« zitiert und drumherum noch einiges gruppiert, was weder durch unvermutete Zusammenhänge noch durch besondere Charaktere glänzte. Ashkenazy glänzte durch seinen hervorragenden Interpretationsversuch, den ihm die Komposition aber leider nicht dankte. Daß er davor noch eine frisch kreierte angebliche Melodram-Fassung der Mendelsohnschen Sommernachtstraum- Musik, die recht eigentlich nicht mehr denn eine Hörspielfassung war, programmierte, gehört ins Kapitel der Peinlichkeiten.

Die eigentlichen Entdeckungen des Festivals sind mir denn wohl entgangen, oder soll's doch nur die eine gewesen sein, daß lange nicht alles, was sich in Werklisten bekannter Komponisten findet von höchstem Hörgenuß ist? Vielleicht aber sollte man einfach das Erstellen von Festival-Programmen als Dissertationsthema anerkennen. Es gibt schließlich musikwissenschaftlich noch so viel aufzuräumen. Das Puplikum wird's danken. Mark Mayer