„Halten Sie mich für übergeschnappt!“

Das Buch zum Stau!! Für alle, deren Vaterfigur Ernst Huberty heißt und die samstags ab 18 Uhr nicht mehr ans Telefon gehn! Und für alle anderen auch. Gehört in jedes Auto wie's Warndreieck  ■ Von Herrn Thömmes

Die wirklich profunden Gespräche auf diesem Planeten beginnen in der Regel mit „Weißt du noch...“ und handeln vom Fußball. Erstaunlich und wunderbar, welchen herrlichen Sondermüll das Hirn zu endlagern vermag, ohne daß die Umwelt im mindesten davon beeinträchtigt wäre. Selbst der 69jährige Walter Jens kann heute noch ohne Stottern den Eimsbütteler Sturm seiner Jugendzeit aufsagen.

Und wird das Leben nicht gerade durch das Wissen heiter, daß Frank Mill einstmals den Beruf des Floristen erlernte und Lothar Matthäus den des... — na, kleine Pause zum Nachdenken gefällig? — ja sicher, genau, zum Raumausstatter ward der dynamische Quasselkopf ausgebildet.

Das alles und noch viel mehr (Frage 1: Wo waren die Eltern von Sepp Maier beschäftigt?) interessiert natürlich jeden halbwegs normalen Menschen, und zwar brennend. Und so ist mit großem Applaus ein neues Buch anzukündigen, das für frische geistige Nahrung sorgt, auch wenn der Titel „Wer ist am Ball?“ ein wenig schlurfig daherkommt. Es ist, genaugenommen, ein Rettungsbuch, fast schon in die Sparte „Survival- Handbook“ einzuordnen, und gehört in jedes Auto wie Verbandskasten und Warndreieck — während das Zweitexemplar zu Hause neben dem Kicker-Almanach deponiert wird. (Frage 2 zwischendurch: Welcher Spieler schlief in der Bettwäsche von Bayern München und durfte ab 1988 endlich auch das Trikot dieses Vereins tragen?)

Wie denn, was denn? Survival? Auto? Jawohl! Es begab sich nämlich, daß der Kollege M. mit Herrn T. von Berlin aus unterwegs war, aber eigentlich nicht vorankam, weil in diesem Land der Stau die Straße beherrscht. Nun war jedoch gerade kein versierter Stau-Berater des ADAC zur Hand, um mit hilfreichen Tips über die Situation zu helfen. (Nur nebenbei, Frage 3: Welcher Trainer sagte: Das schönste an Schalke war die Autobahnauffahrt nach München?) Bevor indes als typische Staufolge größere Aggressionen beim Wagenlenker M. aufkommen konnten, wurden „855 knifflige Fragen an Fußballfans“ aus der Aktentasche gezogen. Ach, das tat dem Gemüte wohl!

Hinein also (Stau bei Beelitz) ins Kapitel „Deutscher Fußball 1“ mit der hübschen Frage nach dem Heimatverein von Bundestrainer Berti Vogts (Frage 4) und der eher bösartigen: Welcher Spieler aus der Reihe derer mit mehr als 500 Bundesligaspielen ist der einzige, der nicht in der Nationalmannschaft spielte? (Frage 5) Neuberger? Quatsch! Körbel? Ach was! Ei, ei, vor lauter Grübeln vergaß M. gänzlich, fünf Meter vorzurücken und aufzuschließen, wie sich das für einen Stauroutinier gehört.

Und munter ging die wilde Raterei, vorbei an den überaus diffizilen „Familiengeschichten“ (Stau am Hermsdorfer Kreuz) und den originellen Passagen von „Um die Ecke geköpft“ (Stau bei Jena), die nachgerade assoziativ-kreuzworträtselige Fähigkeiten abverlangten, denn was ist: Flankengott und Schulabschluß? (Frage 6) Später dann (Stau bei Eschwege), vorgedrungen zur Abteilung „Regisseure und Dauerläufer“, rief M., und hob wie mahnend den rechten Zeigefinger in Richtung gläsernes Schiebedach: „Hier erwarte ich eine Frage nach Hacki Wimmer!!“ Sie kam, sie kam, und das zeigt dann doch das hervorragende Zusammenspiel von Autoren und Rezipienten.

Immer klappt das nicht. Beispiel Franz Beckenbauer, ein nach wie vor ungeklärter Fall. Frage aus der „Terrier und Wadenbeißer“-Abteilung: „Abwehrspieler spielen nicht unbedingt die spektakulärste Rolle in ihren Mannschaften. Welcher Verteidiger wurde als erster trotzdem ,Fußballer des Jahres‘?“ Unstimmigkeit in der Fahrgemeinschaft (Stau bei Gotha, Rückreise). Berti Vogts? Oder doch schon Karl-Heinz Schnellinger? Erst Hans-Peter Briegel etwa? Die Antwort im Buch lautet: Franz Beckenbauer, 1966. Tumult im Kleinwagen! Rufe wie: Blödsinn! Grober Unfug! Nie und nimmer ein Verteidiger! Der Kaiser kickte bei der WM '66 in England ganz klar im Mittelfeld!

Nach wie vor harrt der Fall B. einer Lösung. Redakteur L. schwört beim Barte von Bernd Schuster, Beckenbauer noch 1965 persönlich im Bayern-Mittelfeld gesehen zu haben, der Kicker-Almanach weist ihn beim Europapokalfinale '67 eindeutig in der Abwehrreihe aus (neben Nowak, Olk, Kupferschmidt), ja selbst die genaue Durchsicht des Videofilms „Die Franz Beckenbauer Story“ konnte keine Klarheit schaffen. Und überhaupt: Ist es legitim, Beckenbauer als Verteidiger zu bezeichnen, nur weil er in der Abwehr spielt? Ist nicht vielmehr Abwehrspieler der Gattungsbegriff, unter den dann Verteidiger, Stopper und Ausputzer/ Libero zu subsumieren wären? Ganz klar, Buchautoren wie Biermann/ Lötz müssen sich diesen harten Nachfragen stellen!

Ebenso der unerbittlichen Kritik. Denn neben den köstlichsten Preziosen weltweiter Fußballgeschichte und strammen Zusatzinformationen, aus denen die ganze Liebe zur Materie quillt, fühlt man sich bisweilen schrecklich alleingelassen: Wenn etwa nach dem Spieler, der die meisten Bundesligatore für den VfL Bochum geschossen hat, (Frage 7) gesucht wird (Stau bei Weimar, Rückreise), dann nutzt der Name als Antwort nur wenig.

Wagenlenker M. pflegt in solchen Momenten stets ein wenig emphatisch auszurufen: Man will doch wissen, wo man steht!! Was nichts anderes bedeutet, als daß das Vergnügen um ein Vielfaches sich steigert, wenn neben der richtigen Lösung noch wenigstens der Zweit- und Drittplazierte angegeben werden. Es wächst sonst rasch der frustrierende Eindruck, der Konsum von 30 Jahren „Sportschau“ habe keine bleibenden Erinnerungen hinterlassen — ein deprimierendes Gefühl.

Lücken hat jeder sowieso genug. Oder fällt Ihnen auf Anhieb ein, wie der „Goalgetter“ der Minusmannschaft der Bundesliga, Tasmania 1900 Berlin, hieß? (Frage 8) Wenn das nun allzu schwierig klingt, keine Bange: Wohl finden sich in diesem Werk verständlicherweise Fang- und Irritationsfragen — wer will schon unterfordert werden! —, doch dazwischen amüsieren Bilderrätsel durch ihre durchgängig komischen Motive, und überhaupt lauern Seite für Seite genügend Erfolgserlebnisse.

Wie etwa bei Englands Wanderer? (Stau am Berliner Ring, Rückreise). „Wolverhampton“, rief M. da verzückt, „sehr elegant, starker Abgang.“ Fast neun Stunden saß das kleine Rateteam da schon wieder im Auto (für gut 600 Kilometer) und war noch immer bester Dinge. Kein Streß, nichts von Ungeduld! Oder doch: So viele schöne Kapitel noch bleiben unbewältigt, die 70er Jahre, die Welt der Stadien, die Zweite Liga et cetera pp. — und kein Stau mehr, nirgendwo. 30 Kilometer fließender Verkehr bis Berlin, am Stück.

Nun könnte man meinen, Autoren wie Käufer eines solchen Buches seien irgendwie nicht ganz richtig im Kopf, völlig abgefahren, durchgeknallt und gaga — ein Eindruck, dem umstandslos zuzustimmen ist. Ganz so, wie es schon der Radioreporter Zimmermann bei seiner berühmten Reportage vom WM-Finale '54 zu Bern ins Mikrofon brüllte: „Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt!“

Fußball ist Tradition, und Tradition verpflichtet.

PS: Unter denjenigen Einsenderinnen und Einsendern, die alle elf Fragen incl. Fotofragen, richtig beantwortet haben, werden fünf Exemplare von „Wer ist am Ball“ verlost. Einsendeschluß (Poststempel): Dienstag, 29.9.92; Lösungen am nächsten Samstag an dieser Stelle.

Christoph Biermann/Thomas Lötz: „Wer ist am Ball? 855 knifflige Fragen an Fußballfans“; Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1992; 176 S.; DM 16,80; ISBN 3-8218-1244-3