IM ZEICHEN DER IKONE

■ Flußkreuzfahrt von St. Petersburg nach Moskau. Eine Pilgerreise

Flußkreuzfahrt von St. Petersburg

nach Moskau. Eine Pilgerreise.

VONGÜNTERERMLICH

„Mir steht es bis hier.“ Der Endfuffziger fährt sich mit der Hand an den Hals. Liegt das an der gerade eingenommenen Borschtschsuppe? Nein, unser Tischnachbar aus dem Odenwald hat es schlechterdings satt: „Ich kann keine Ikonen mehr sehen.“

Der Odenwälder ist einer von 150 deutschen Flußkreuzfahrern, die 10 Tage lang an Bord des Hotelschiffs MS „Michael Scholochow“ verbringen. Am schwarzen Brett neben der Rezeption steht unsere Reiseroute: „Petersburg-Moskau: 1.822 km. 5 Städte, 2 Inseln, 10 Stauseen, 5 Gebiete, 1 Republik Karelien, 3 Seen, 7 Flüsse, 16 Schleusen.“ Das Wesentliche fehlt: die Kapellen, Kirchen, Kathedralen und Klöster mit ihren unzähligen Ikonen.

Start unserer Reise im Zeichen der Ikone in St. Petersburg. Im Schweinsgalopp klappern wir im roten Intourist-Bus die gängigen Sehenswürdigkeiten ab: Schloßbrücke mit Blick auf die Peter-Pauls-Festung, gefürchtetster Knast zu Zarenzeiten; der Kreuzer Aurora, Ikone der russischen Revolution, von dem der historische Schuß für die Erstürmung des Winterpalasts losballerte; das Smolny-Institut, einst Mädcheninternat russischer Aristokratinnen, dann Lenins Hauptquartier der Oktoberrevolution. Aus dem Namen der Stadt ist Lenin per Volksabstimmung vom Juni 91 verschwunden. Konstantin, unser 22jähriger Stadtführer, spricht über den Baumeister des Sowjetreichs nur noch als unvermeidliche Fußnote der Geschichte.

Dafür erzählt er von 141 Kirchen verschiedenen Glaubens. Eine davon ist die „Kirche des Erlösers am Blut“. Infolge eines Attentats 1881 verblutete hier der reformfreudige Zar Alexander II. Vor der Kirche, seit 1970 ewige Baustelle, belagern uns, wie überall, wo wir auf Sehenswürdigkeiten gehetzt werden, jede Menge fliegende Händler mit Armeemützen, -abzeichen -, Anstecknadeln und Matrjoschka-Schachtel- Puppen (die zur Zeit größte Politpuppe Jelzin hat sich Gorbatschow einverleibt). Wenn einer der jungen Männer drei Flaschen Wodka auf der Straße loswird, hat er mehr verdient als bei einem ganzen Monat Knochenarbeit in der Fabrik. Dank Jelzins Gesetz über den freien Handel vom Oktober 91. Eine Vier-Mann-Blaskapelle, Posaune, Trompete, Saxophon und Tuba, intoniert den Deutschen zuliebe „Freude schöner Götterfunken“. Und zum Abschied „Muß i denn zum Städele hinaus“. Harte deutsche Münzen fliegen in den Instrumentenkasten mit dem „Siemens“-Aufkleber. Kinder halten die Hand auf.

Die berühmte Eremitage ist montags dicht. Schlampige Organisation. Einige Nörgler wollen sich später beim Reiseveranstaler beschweren. Doch der Eremitage-Ersatz, ein Abstecher nach Puschkin, dem früheren Zarskoje Selo (Zarenstadt), versöhnt. Peter der Große beglückte hier seine Katharina II. mit der größten und prunkvollsten aller Sommerresidenzen.

Fast beiläufig, beim Umrunden des Platzes des Aufstandes, hatte Stadtführer Konstantin die härteste Periode der Stadt an der Newa-Mündung erwähnt: „St. Petersburg wurde im Zweiten Weltkrieg 900 Tage belagert.“ Damals, zwischen September 1941 und Januar 1944, als Leningrad von der deutschen Wehrmacht eingekesselt war und mehr als eine Million Menschen verhungern mußten, erinnert sich einer der Kreuzfahrer, „haben die Sowjets mit Autos und Schlitten über den zugefrorenen Ladogasee die Versorgung und Entsorgung der Bevölkerung geleistet“. Der alte Mann preßt seinen Schmerbauch gegen die Reling, hängt den Krückstock daran und schwenkt seinen Camcorder in Zeitlupe über den größten Binnensee Europas. Mit einem blauen Auge wäre seine Division damals davongekommen, erzählt er, und nach Frankreich abkommandiert worden.

Auf dem Sonnendeck der MS „Michail Scholochow“, 1987 auf der Elbewerft in Boitzenburg/DDR gebaut, aalen sich Krampfadern und Bierbäuche. Die zumeist älteren Touristen, versetzt mit wenigen juvenilen Einsprengseln, sitzen abends in der roten Bar und lassen zum Keyboard-Rumtata des Schwarzwälder James die Wolga Wolga sein, um dem Rhein und dem Wein zu frönen. Neptunfest, Jekami-(Jeder kann Mitmachen)-Volksbelustigung und Russisch-radebrechen-lernen sind die Beschäftigungstherapien, wenn auf dem Ladogasee und Onegasee kein Land in Sicht ist. Außerdem zwei Mal 90 Minuten Volkshochschule: russische Wirtschaft und russische Politik. Der eigens dafür angeheuerte Experte, Geschichtsprofessor von der Moskauer Lomonossow- Universität, beklagt die Spaltung seiner Gesellschaft: „Viele fliehen in Religion und Spiritualismus, andere werden politisch passiv, wieder andere suchen im Tourismusgeschäft die schnelle Mark.“

„Kultur in Rußland ist Klosterkultur“

Im nordwestlichen Teil des Ladogasees liegt das Archipel Vaalam. 50 hügelige Felseninseln mit hauchdünner Humusschicht. Unsere Inselführerin Tatjana trägt demonstrativ das Kreuz über der Bluse. Im Oktober 1990 wurde das Gesetz über die Religionsfreiheit verabschiedet. Kultur in Rußland, erzählt Tatjana, das sei vor allem Klosterkultur gewesen. Deshalb sei der Leidensweg der Klöster untrennbar mit dem Schicksal ganz Rußlands verbunden: Von den einst 1.248 Klöstern zerstörten die Machthaber unter dem roten Stern zwischen 1917 und 1940 sage und schreibe 1.218. Das verfallene Kloster Vaalam, seit zwei Jahren aus dem Staatsbesitz entlassen, wird mit Geldern des Moskauer Patriarchen Aleksi II., Oberhaupt der Russisch- orthodoxen Kirche, aufgemöbelt. Schon 20 Mönche sind seit letztem Jahr zurückgekehrt. Zur Hochzeit, um die Jahrhundertwende, lebten 2.000 Kuttenträger hier.

Mit 14 Knoten gleitet unser Binnenfahrgastschiff über dem Onegasee durch die karelische Schärenlandschaft. Karelien, das sind Wälder, so weit das Auge reicht. Birken und Nadelbäume. Finnland ist ganz nah. Der nördlichste Punkt unserer Reise, die Insel Kishi, liegt über dem 62. Breitengrad. Schon von weitem sichtbar ragt die Christi-Verklärungskirche in den blauen Himmel des Nordens. Die formvollendete hölzerne Schönheit ist das Filetstück der sattgrünen Insel, die seit 1965 Museumsdorf ist, ein Freilichtmuseum mit Prachtexemplaren russischer Holzbaukunst. Kirchen, Holzhäuser, Scheunen, Windmühlen.

Petrosawodsk ist das wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum Russisch-Kareliens. Peter der Große ließ 1703 hier eine Kanonengießerei bauen, um den Zugang zur Ostsee gegen die Schweden zu verteidigen. Petrosawodsk ist das ganze Gegenteil seiner Partnerstadt Tübingen. Im Zweiten Weltkrieg zu 60 Prozent zerstört, in den fünfziger Jahren mit Bauten im Stalinschen Zuckerbäckerstil überzogen. „Unsere Städte waren doch auch stark zerstört und sehen heute wieder schön aus“, sagt die deutsche Trümmerfrau. Unsere Stadtführerin schluckt es runter.

Das Städtchen Kirillow im Gebiet Wologda. Einzige Attraktion ist das ehemals wohlhabende Kloster. „Hoffentlich bald ein Touristenzentrum“, sagen die Einheimischen. Die noch intakte 10 Meter hohe Befestigungsmauer bot einst Schutz gegen die polnisch-litauischen Invasoren und die Tataren. Eine kleine Gruppe ist während der Klostertour nicht so richtig bei der Ikonen-Sache. „Wieviel Prozent von dem, was uns die Führerin erzählt hat, haben Sie behalten?“ Nur ein Prozent, wettet der erste, O,1 Prozent, unterbietet ihn der zweite, ein Promille, feixt schließlich die dritte. Allgemeines, befreiendes Nicken.

Nach dem offiziellen Besichtigungsprogramm büxen einige Bauern vom Bodensee aus und ziehen auf eigene Faust los. Zielbewußt steuert ihr Anführer, rußlanderprobter Kämpfer, auf das blau gestrichene Holzhaus zu. Die schwäbische Korona im Schlepptau. In der Garage fingert der Herr des Hauses an einem alten Motorrad mit Beiwagen. Der Anführer schwäbelt mit ihm russisch. Der Mann sei Zimmermann, seine Tochter Natascha studiere deutsch, übersetzt er. Schon ist die Korona drinnen in der guten Stube. Natascha ist sichtlich verlegen. Die Eindringlinge zücken die Kameras. Natascha, Bruder, Mutter, Vater werden zum Gruppenfoto positioniert. Schön haben Sie es hier, wirklich schön. Da drüben, ist das Ihr Schlafzimmer? Beim Abschied wird noch ein runder bunter Teppich, von Babuschka gestickt, mitgenommen. Für 10 Mark, ist doch geschenkt.

Noch gerade rechtzeitig, bevor die „Michail Scholochow“ ablegt, ist die schwäbische Korona zurück an Bord. „Das ist Rußland“, schwärmt der Anführer über die Stippvisite im Holzhaus. Aus allen Lautsprechern — wie immer, wenn das Kreuzfahrtschiff einem Hafen den Rücken kehrt — schmachtet der Marsch „Abschied von einer slawischen Frau“. „Schade, daß wir sowenig mit der Bevölkerung in Kontakt gekommen sind. Das Schiff ist doch wie eine schwimmende Insel“, bedauert einer der Schwaben.

Das Gedöns mit dem kleinen Zaren

glitsch am Oberlauf der Wolga. Die „Michail Scholochow“ ankert vor dem mächtigen Wasserkraftwerk. Drei Stunden Landgang. Auf der Wolga-Promenade spazieren wir durch das Spalier der fliegenden Händler, die vor allem die hier produzierten Chaika („Möwen“)-Uhren anbieten. 10 Mark das Stück, mit Emaille besetzt 25 Mark. Auf dem Untersatz eines Kinderwagens stehen drei kleine Gläser mit Erdbeeren, eins mit Stachelbeeren. Dahinter sitzt ein Mütterchen mit Kopftuch.

„Hoffentlich ist mein Haus nicht von Asylanten besetzt, wenn ich heimkomme“, sorgt sich ein betagter Schwabe. „Rußland ist ja sooo groß“, fällt sein Nachbar ein, „da könnten sie spielend noch 50 Millionen von denen unterbringen.“ Der Rechtsaußen der Schwaben-Troika assistiert: „Und die ganzen Jugoslawen noch dazu, die kennen sich ja mit der Sprache hier schon aus.“

Größtes Kleinod im Uglitscher Kreml, dem historischen Stadtkern, ist die rot getünchte Dmitri-Blutkirche mit blauen, sternbesetzen Kuppeln. Drinnen Wandbilder mit Szenenfolgen, wie Dmitri, der Zarewitsch und erster Sprößling Iwan des Schrecklichen, im zarten Alter von neun Jahren hier ermordet wurde. „Was die ein Gedöns mit dem kleinen Zaren machen“, sinniert ein grauer Spitzbart auf dem Rückweg zum Schiff, „wo die Zaren doch soviel Dreck am Stecken hatten.“

Endstation Moskau. Pflichtprogramm Kreml. Es regnet in Strömen. 150 Kreuzfahrer hasten durch den Troizkaja-Turm, den Eingang für Touristen, vorbei am modernen Kongreßpalast, an Zaren-Kanone und Zaren-Glocke zum Kathedralenplatz. Schlangestehen vor allen vier Kathedralen. Mit ihren fünf goldenen Kuppeln, nur bei strahlendem Sonnenschein so richtig in ihrem güldenen Element, ist die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale für unsere Führerin „die schönste Kathedrale Rußlands“: Krönungsstätte der Zaren, Wahlort der Patriarchen, Begräbnisstätte der Metropoliten. Seit diesem Jahr werden wieder Gottesdienste abgehalten für Regierungsmitglieder und andere VIPs. Jetzt machen wir unsere definitive Ikonographen-Reifeprüfung. „Die Ikonenwand, die klassische Ikonostasis, besteht aus fünf Reihen: ganz oben die Urväter-Reihe, darunter die Prophetenreihe, die Festtagsreihe, Apostelreihe“ belehrt uns die Führerin. Ikonen würden auf Holztafeln gemalt, meist aus Lindenholz. In russisch-orthodoxen Kirchen gibt es keine Orgelmusik, keine Sitzbänke. Zwei Drittel Gebetsraum, ein Drittel Altarraum hinter der Ikonenwand.

Doch die profanen Eindrücke Moskaus ziehen mehr in den Bann: die Brücke gleich neben dem Roten Platz, wo der deutsche Flieger Rust („Pfundskerl“, „Verrückter“) seine Cessna landete; das berühmte Kaufhaus GUM mit der Schaufensterfront von Karstadt („Only hard currency“); die ungezählten Hare- Krishna-Jünger, die in ihren Gewändern, die militärischen Uniformträger ausstechend, nun den Ton im Stadtbild angeben.

Während die russisch-orthodoxe Kirche enormen Zulauf hat, werden die Insignien der verflossenen Macht in der Requisitenkammer der Geschichte gelagert. Aus der Politreise zu den Helden und Errungenschaften der Sowjetunion ist Pilgerreise zu Wallfahrtsorten Rußlands geworden. Ikone ist das mit Abstand häufigste Wort, das Julija, unsere exzellente Schiffs-Dolmetscherin, ins Deutsche übersetzen muß. Letztes Jahr, mit 21, hat sie sich taufen lassen. Julijas Ehemann Andrej, auch Dolmetscher, strenggläubig kommunistisch sozialisiert, muß erst mal die Bibel büffeln. „Früher haben die hier doch einen großen Bogen um alles Heilige gemacht, heute kriegt man nur Kirchen und Klöster vorgeknallt“, weiß die rußlanderfahrene gediegene Dame aus Hannover.

Veranstalter: Deutsches Reisebüro (DER), Emil-von-Behring-Str. 6, 6000 Frankfurt/ Main 50, Tel.:069- 9588-00.