Feiert heute, morgen gibt es nicht!

Samisdatpublikationen und T-Shirt-Aktionen: Trotz Repressionen ist der politische Untergrund aktiv  ■ Von Lau Kin Chi

In den drei Jahren seit dem Massaker vom Tiananmen-Platz hat eine beispiellose Explosion von Untergrundpublikationen stattgefunden. Am interessantesten ist das Auftauchen von Samisdatliteratur, die sich von den üblichen Produkten des politischen Untergrunds wie Manifesten und anderen Agitprop-Erzeugnissen durch ihren intellektuelleren und häufig auch literarischen Inhalt unterscheidet. Es ist das erste Mal, daß diese Art von Samisdat in der Volksrepublik China aufgetaucht ist.

Die Repression, die auf den 4. Juni 1989 folgte, trieb die Aktivisten der oppositionellen Bewegungen in den Untergrund. Daher ist es schwierig, eine genaue Vorstellung von Art und Ausmaß der organisierten Opposition gegen die Regierung zu bekommen. Die meisten Gruppen und Parteien operieren in streng kontrollierten, klandestinen Einheiten mit losen Verbindungen über Land. Die Verteilung von Material wird in der Regel durch einen inneren Unterstützer- und Sympathisantenkreis übernommen.

Die Existenz von Samisdatpublikationen und politischen Organisationen sowie die Namen ihrer Anführer ist ironischerweise erst durch ihre Bekanntgabe und Verurteilung in den offiziellen Medien ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Auf einem internen Treffen von Regierungs- und Militärführern sagte Tao Siqu, Minister für öffentliche Sicherheit, daß die Sicherheitsbehörden bis zum 6. Mai 1991 60 bis 70 illegale Organisationen identifiziert hätten, die in den ersten Monaten des Jahres in allen größeren Städten vertreten waren. Gleichzeitig hatte man über 137.000 Exemplare feindlicher Propaganda, Flugblätter, Poster und Broschüren sichergestellt, die landesweit im Umlauf waren.

Solche Zahlen beweisen wie die Verhaftung der Beteiligten ein beträchtliches Ausmaß kontinuierlicher Unruhe in der Volksrepublik. In den Samisdatpublikationen und in der oppositionellen Propaganda wird die weitverbreitete Unzufriedenheit prominent thematisiert.

Viele Dissidenten haben auch die Gerichte in Anspruch genommen, um die alles erstickende Zensur zu unterlaufen. Selbst wenn Klagen gegen die Regierung am Ende von den Gerichten abgewiesen werden, so haben sie doch Öffentlichkeit für die Kläger und ihren Protest hergestellt.

Auch die T-Shirt-Rebellion, über die später noch zu berichten sein wird, hat einen, wenn auch nur kurzlebigen Sieg über die Zensur gebracht. Und verbotene Bücher finden in der Zeitspanne zwischen Publikation und Rückruf beziehungsweise Säuberung der Buchhandlungen in der Regel ihren Weg auf den schwarzen Markt.

Diskussionen im Untergrund

Samisdatpublikationen sind in Peking, Shanghai, Chansha, Chengdu und Kunming erschienen. Die meisten werden — oder wurden vor ihrer Entdeckung und Auflösung — von Studenten und Intellektuellen der Demokratiebewegung von 1989 herausgebracht. Andere kommen aus Kreisen der „Veteranen“ unter den Aktivisten, deren Engagement auf den Pekinger Frühling von 1978 bis 1981 zurückgeht. Auch Rechtsanwälte, Ärzte und Schriftsteller sind beteiligt.

Der größte Teil der Samisdatliteratur erscheint in Peking, im Herzen der Demokratiebewegung. Peking hat die besten Kontakte zur Außenwelt, vor allem nach Hongkong, wo regelmäßig über den Samisdat, das Erscheinen eines Blattes und seine eventuelle Auflösung, berichtet wird. In Hongkong erscheint zudem das zwölfseitige Informationsblatt Xin Xi (Nachrichten), eine Zusammenstellung der wichtigsten Nachrichten aus den Hongkonger Medien, die seit Oktober 1990 einmal im Monat als Samisdatschrift nach China gelangt.

Auswahl und Qualität des Samisdat von Peking sind beeindruckend. Eine der besten Publikationen ist „Freies Forum“, das im Dezember 1991 von Hongkonger Quellen zum erstenmal erwähnt wurde. Bemerkenswert am „Forum“ sind vor allem seine Analysen der internationalen Politik und die intelligente Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten von Freiheit und Demokratie.

Zwei weitere Publikationen aus Peking, die jedoch inzwischen wieder eingegangen sind, waren „Demokratische Diskussion“ und „Eisenströme“. Erstere, vermutlich von dem Studenten Liu Xianbin herausgegeben, konzentrierte sich auf Forderungen zur Reform des kommunistischen Systems. Liu wurde (vermutlich) im Mai 1991 verhaftet. Chen Yingbin und Zhang Yafei, früher Studenten an der Universität von Qinghua und treibende Kraft von „Eisenströme“, sind Ende 1991 verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Propaganda“ zu fünfzehn beziehungsweise acht Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Die Zweimonatsschrift „Wir alle“ erschien im Oktober 1991 das erste Mal. Im Juni 1992 wurden ihre Herausgeber Wang Shengli und Liao Jiaan (alias Shi Zhai) verhaftet, nachdem man bei einer Razzia Flugblätter und eine Druckmaschine in ihrem Studentenschlafsaal der Volksuniversität fand. Am 12. Juni gab die Universität bekannt, daß die beiden wegen der Verteilung von „konterrevolutionären Flugblättern“ verhaftet seien und wegen „konterrevolutionärer Propaganda und Aufwiegelung“ vor Gericht gestellt würden.

„Wir alle“ wurde vom „Studienclub“ der Volksuniversität publiziert, der sich im Oktober 1990 gründete und mit über 200 Studenten und Akademikern der größte studentische Club ist. Ziel der Zeitschrift unter den Herausgebern Shi Zhai, Yuan Cheng und Li Yan war es, den Gedankenaustausch unter verantwortungsbewußten jungen Akademikern mit Essays über Philosophie, Literatur und Kultur sowie literarischen Arbeiten zu fördern. Man war nicht offen subversiv und vermied Tabuthemen, mit denen man sofort Anstoß bei den Behörden erregt hätte; gleichzeitig war man jedoch auch weit von jeder Orthodoxie entfernt. Häufig war die Kritik an der Regierung so radikal, daß sie wie offener Widerstand wirkte. Naiv dagegen erschienen die Beiträge oft, wenn es um eine Einschätzung der Machtverhältnisse im Lande ging oder die des Bruchs zwischen Regierung und Volk.

In den ersten beiden Ausgaben — je über 50 schreibmaschinengeschriebene Seiten — findet man zum Beispiel einen Aufsatz über die Vereinbarkeit von Sozialismus und Menschenrechten, eine Kritik „ultralinker“ Theorien und Praktiken und eine Diskussion über die Rolle von Intellektuellen — sowohl in ihrer Funktion als Inhaber von Wissen und damit Kontrolle, als auch in ihrer möglichen Rolle als Geburtshelfer eines neuen Systems, das sich nicht auf Parteienideologie, sondern auf das Gesetz gründet. Eine Analyse Baudelairescher Lyrik wird als Vehikel zur Abwehr von Ohnmachtsgefühlen benutzt, und mit Kommentaren zur chinesischen Außenpolitik verweist man auf einen größeren Pragmatismus, mit dem der Staat — und man selbst — seine Interessen vertreten solle. Ein weiterer Beitrag kritisiert heftig das Staudammprojekt „Drei Schluchten“, und in der Rubrik empfohlener Literatur findet man literarische und politische Titel, die das kommunistische System kritisieren, sowie westliche Darstellungen der Geschichte des modernen China und Frühschriften von Marx und Mao Tse-tung.

Die postmodernen Lyriker von Chengdu in Sezchuan hatten schon früher mit der Herausgabe von Samisdatpublikationen begonnen — sie benutzten ihn zur Zirkulation ihrer von offiziellen Stellen abgelehnten Gedichte. Eine berühmt gewordene Samisdatschrift, „Moderne Lyrik Sezchuan“, wurde 1987 von dem Dichter Liao Yiwu gegründet. Nach dem 4. Juni 1989 schrieb er ein langes Gedicht mit dem Titel Das Massaker, das er selbst auf Band sprach und in dieser Form in Shanghai und Peking in Umlauf brachte. Im Februar 1990 begann Liao zusammen mit den Lyrikern Li Yawei, Wan Xia, Liu Taiheng, Ba Tie und Gou Mingjun, ein Drehbuch mit dem Titel „An Ling Qu“ (Kondolenz für die Toten) für eine Videoproduktion zu schreiben. Am Tag der Fertigstellung des Bandes, am 25. März, wurden alle verhaftet. Liao wurde zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt, die anderen bekamen je drei Jahre aufgebuckelt.

Es gab weitere Samisdatzeitschriften für Lyrik, die von den verschiedenen Lyrikclubs in Sezchuan produziert wurden: „Wildgrass“, „Kraut Namenlos“ und „Bruch“ sind einige ihrer Titel. Mehr als zehn Clubmitglieder — man weiß nicht, von welchem Club — sind angeblich am 7. April 1990 verhaftet und dann wegen „illegaler Publikation“ angeklagt worden.

Ende des Jahres 1989 waren in Kunming, Yunnan, bereits Ji Kunxing, Shang Jingzhong, Shi Ying und Yu Aumin verhaftet worden wegen ihrer Tätigkeit für die Samisdatpublikation „Pionier“. Ihnen wurde vorgeworfen, eine „konterrevolutionäre Organisation“ gegründet zu haben.

In Shanghai wurde die Zeitschrift „Verjüngung“ von der Organisation „Zhong Guo Zhu Yun Dong Lian He Zhen Xian“ (Vereinigte Front der Demokratiebewegung Chinas/siehe Kasten) herausgegeben. Die „Freie Stimme“, die vor allem ausländische Medien über Menschenrechtsverletzungen in China informierte, wurde von den Sicherheitskräften am 17. April 1992 aufgelöst, und zwei Dichter, die an der Arbeit der Zeitung beteiligt waren, Mang Lang (alias Meng Junliang) und Mo Mo (alias Zhu Weiguo), wurden verhaftet.

Seit November 1991 erscheint die Literaturzeitschrift „Wan(g) Xiang“, die von Li Zhongyuan und Li Dingcheng in Chensha, Hunan, produziert wird. Ihre Texte über Freiheit, Liebe, Wahrheit und das Dasein im allgemeinen sind, in Prosa und Gedichtform, eher abstrakt gehalten und in ihrer Liberalität recht abgehoben von der konkreten Situation. Kürzere Prosastücke plädieren in bitterem Ton für eine „Explosion“, die die Welt „von allem Übel befreien“ soll.

„Ein kleiner Funke reicht für einen Flächenbrand“

Anfang Juni (1991) erschienen in allen größeren Städten Chinas auf dem freien Markt plötzlich T-Shirts mit witzigen Aufschriften. Sie waren sofort ein Riesenerfolg unter Teenagern, die sie vorzugsweise in den Stadt- und Einkaufszentren spazieren führten.

Auf Brust und Rücken stand da zum Beispiel: „Ich bin furchtbar deprimiert. Bleib mir vom Leib!“ „Das Leben ist sinnlos.“ „Ich bin schrecklich müde.“ „Ich bin Kaiser.“ „Feiert heute, morgen gibt es nicht.“ „Mama hat mir's vorgesungen: Ohne die Kommunistische Partei gibt es dies neue China nicht.“ „Ich fürchte keinen Schmerz, ich fürchte nicht den Tod, und dich fürchte ich auch nicht!“ „Befreit die Welt von allen bösen Tieren.“ „Ein kleiner Funke reicht für einen Flächenbrand.“ Es gab außerdem Mao- Sprüche, Spottverse auf die Reformen, die Karikatur einer weinenden schwarzen Katze und ein um eine Collage aus Ausweisen und Lebensmittelkarten laufendes Spruchband: „Nicht so einfach, eine Familie sattzukriegen.“

Einer der Schöpfer dieser T- Shirts sagte in einem Radiointerview in Hongkong: „Wir dürfen nicht demonstrieren, wir dürfen keine Wandzeitungen schreiben. Warum können wir uns nicht wenigstens selbst mit Wörtern schmücken?“ Am 30. Juni wurden die T-Shirts verboten und konfisziert.

Lau Kin Chi lebt in Hongkong und unterrichtet dort am Lignan-College im Fachbereich Übersetzung.