Der Ärger mit Dai Qing

Die ungewöhnliche Karriere eines Kaderkindes  ■ Von Geremie Barmé

Auf den ersten Blick wäre Dai Qing eine eher unwahrscheinliche Kandidatin für die Unterstützung intellektueller Freiheit und Opposition gegen das offizielle Credo der Volksrepublik China. Die Tochter eines „Märtyrers der Revolution“ wuchs auf im Hause eines berühmten Generals, einem der Gründer der Volksrepublik China. Nach ihrer Ausbildung an einer Militärakademie für die Elite arbeitete sie zunächst als Raketentechnikerin, war Angestellte im Ministerium für öffentliche Sicherheit und fand für kurze Zeit Verwendung als Agentin der militärischen Abwehr. Schließlich wurde sie Reporterin an einer der größten Tageszeitungen des Landes.

Tatsächlich ist es wohl gerade ihr Hintergrund als Mitglied der herrschenden Elite, das sie zu einer so hartnäckigen Kritikerin der Kommunistischen Partei werden konnte.

Zu Beginn ihrer Karriere als Journalistin unternahm sie außerdem eine Reihe von Recherchen, die am besten als „historisch investigativer Journalismus“ bezeichnet werden können. In diesen Arbeiten untersuchte sie Leben und Werk einiger wichtiger Intellektueller der vierziger und fünfziger Jahre, die alle entweder zum Schweigen gebracht oder umgebracht worden sind. Durch die Wiederentdeckung dieser Geschichte in den achtziger Jahren gab Dai Qing den zeitgenössischen Kritikern des Systems eine mächtige Waffe in die Hand, nämlich das Wissen um eine Tradition des intellektuellen Widerstands.

Obgleich Dai Qing mit den studentischen Protesten von 1989 sympathisierte, fürchtete sie von Beginn an die Manipulation dieser Unruhen durch verschiedene Parteifraktionen, die sich in einem wüsten innerparteilichen Streit befanden. Daher drängte sie die Studenten, ihre Proteste nach der Massendemonstration vom 27.April aufzugeben. Trotz dieser Haltung wurde sie in den auf das Massaker von Peking am 3.und 4.Juni folgenden Säuberungen verhaftet. Nach zehn Monaten Verhör wurde sie freigelassen. Selbst dann jedoch blieb sie nicht still und publizierte im Mai, nur wenige Tage nach ihrer Freilassung, ihren umstrittenen Text „Meine Haft“ (Wode ruyn), in der Presse von Taiwan und Hongkong. Dai Qing hat nicht nur die Politik der chinesischen Regierung öffentlich kritisiert, sondern steht, sehr zum Leidwesen der Dissidenten im Exil, auch deren radikaleren Positionen negativ gegenüber.

Als Journalistin der Guangming- Tageszeitung, einer der größten des Landes, reagierte Dai Qing ohne Zögern auf das Massaker von Peking in der Nacht vom 3.zum 4.Juni. In einem Telefoninterview am 4.Juni sagte sie, sie hätte nie gedacht, daß die Regierung zu einer solchen Handlung fähig sein könnte und erklärte ihren Austritt aus der Kommunistischen Partei. Als eine der wenigen unter den Aktivisten hatte sie bereits früh ihre Furcht geäußert, die Regierung würde womöglich äußerst hart gegen die rebellierenden Studenten, Intellektuellen und Pekinger Bürger vorgehen. Als am 20.Mai das Kriegsrecht erklärt worden war, hatte sie mit sichtlicher Beklommenheit erklärt: „Eine irrationale Regierung steht jetzt einer irrationalen Bevölkerung gegenüber.“

Qing blieb in Peking

Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz blieb Dai Qing zunächst in Peking; offenbar glaubte sie nicht, daß die beginnenden Säuberungen sie betreffen könnten. Schließlich ging sie nach Tongyu in die westlichen Berge, wo sie ein Haus besitzt. Obwohl sie im offiziellen Regierungsbericht zur Protestbewegung als „Anstifterin der Unruhen“ bezeichnet wurde, kehrte sie im Juli unbesorgt in die Hauptstadt zurück; dort wurde sie verhaftet. Man brachte sie in das Qincheng-Gefängnis und startete eine Rufmordkampagne in der nationalen Presse gegen sie. Der Haftbefehl, den sie auf ihrer Polizeiwache durch Unterschrift bestätigen mußte, lautete auf „Verdacht der Beteiligung an Unruhen“.

1941 wurde Dai Qing in Chongqing geboren. Ihre Mutter Feng Dazhang (auch unter dem Namen Yang Jie bekannt) kam aus einer Familie mit „guten Beziehungen“, ihr Vater war ein Parteiaktivist aus Jiangxi. Sein ereignisreiches Leben führte ihn als Russisch-Student nach Moskau, wo er Borodins Dolmetscher wurde; später beteiligte er sich an bewaffneten Aufständen in Nanchang und Guangzhou, wurde Organisator der Partei in Südostasien und befreundete sich mit Ho Chi Minh. Beide Eltern waren Mitglieder der Partei und unterhielten noch aus den zwanziger Jahren stammende, enge Beziehungen zur Elite der KP Chinas. Als ihr Vater in Peking verhaftet wurde, war Dai Qing erst drei Jahre alt; man nimmt an, daß er schließlich von den Japanern liquidiert wurde. Auch ihre Mutter war eine Zeitlang inhaftiert; nach ihrer Freilassung adoptierte sie Ye Jianying (1897-1985), der Militärführer und später einer der „Zehn Großen Marschälle der Volksrepublik China“ wurde. Ende der vierziger Jahre war Ye nach Peking gezogen und hatte an führender Stelle für die kommunistische Übernahme der Stadt gesorgt, zuerst als militärischer Experte und dann als erster kommunistischer Bürgermeister der neuen Hauptstadt. Ye war bei Fu Daqing und Feng Dazhang Trauzeuge gewesen und bot jetzt, nach Fengs Freilassung, seine Hilfe an. Als ihre Mutter wieder heiratete, blieb Fu Xiaqing (Dai Qings eigentlicher Name) bei ihrer Adoptivfamilie.

Trotz dieses sehr besonderen familiären Hintergrunds sieht Dai sich im nachhinein nicht als typisches Kaderkind. Sie sei immer eine Außenseiterin gewesen, die die Beziehungen und Bedeutung der Menschen ihrer Umgebung kaum richtig wahrnahm. Sie hatte nie daran gedacht, Ye einmal zu fragen, bei welcher Einheit er in der Armee gewesen sei — und als sie das kurz vor seinem Tod nachholte, war er so überrascht, daß er ihr eine Ohrfeige gab.

Nach dem Abschluß der Oberschule ging Dai zu der Lehranstalt, die als Universität der Kaderkinder galt, dem „Harbin Institut für angewandte Militärwissenschaft“. Dort studierte sie von 1960 bis 1966 am Fachbereich für ferngesteuerte Raketen, wobei sie sich auf automatisierte Raketensteuerungssysteme spezialisierte. Nach ihrem Abschluß kehrte sie nach Peking zurück und arbeitete einige Monate lang in einem Forschungsinstitut des Ministeriums für Maschinenbau; dort traf sie kurz vor Ausbruch der Kulturrevolution ihren zukünftigen Mann, Wang Deji, damals ebenfalls mit der Entwicklung von Prototypen beschäftigt. 1965 trat sie der Kommunistischen Partei bei.

Die Rebelleneinheit, der sie und ihr Mann sich bald darauf anschlossen, hieß „16.September“ (Jiu yaoliu). Schon als Kind war Dai immer besonders gehorsam gewesen. Ihre Beteiligung an der Kulturrevolution interpretiert sie im nachhinein als Wunsch, dem Vorsitzenden Mao in seinem Ruf nach Rebellion zu gehorchen. Wie viele andere wollte auch sie sich ganz und gar der Revolution und dem Großen Vorsitzenden ergeben. Ihre Artikulationsfähigkeit machte sie schnell zu einer Rednerin, und außerdem konnte sie gut schreiben. In einem ihrer späteren Texte erinnert sie sich an einen typischen Artikel. Darin wünschte sie sich von der Wissenschaft die Möglichkeit, von der eigenen Jugend dem Vorsitzenden Mao ein Jahr ihres Lebens zu geben, damit dieser auch nur eine Minute länger leben könnte.

Bei Tätlichkeiten und Überfällen machte sie nicht mit. Ihre Halbschwester Ling Zi (Ye Xiangzhen) betrieb die Gefangennahme der „Peng-Lu-Luo-Yang-Bande“ mit, und Dai war auf dem Planungstreffen dabei. An der Geiselnahme beteiligte sie sich jedoch nicht. Ihr Training auf naturwissenschaftlichem Gebiet, so meinte sie später, half ihr, einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht in irrationale Extreme zu verfallen.

Erste Zusammenstöße

Dai besuchte drei Jahre lang, von 1968 bis 1971, die Kaderschulen in Zhanjiang und am Dongting-See in Hunan. Auf dem Lande wurde sie als „Element des 16.Mai“ verdächtigt und dort auf einer Vollversammlung als Konterrevolutionärin bezeichnet, nachdem sie und ihr Mann sich 1971 ohne Erlaubnis nach Peking davongemacht hatten. „Bis dahin hatten sie mir immer getraut und mich beschützt.“ Es war ihr erster Zusammenstoß mit der Partei und das erste Mal, daß sie das Gesetz in Anspruch nahm, um sich zu schützen und ihre oppositionelle Haltung gegen die Leitung aufrechtzuerhalten.

„Wie ich in ,Meine Haft‘ geschrieben habe, hatte ich nicht so sehr den Wunsch, mich selbst zu verteidigen, als die ganze Welt zur Zeugin dieser Ungerechtigkeit und meines Widerstandes zu machen. Mir ist klargeworden, daß das, was sie am meisten empört, Ungehorsam ist, Widerspruch. Alles andere können sie schlucken: Veruntreuung von Geldern, Plagiat und was weiß ich noch alles. Das kann man verzeihen, nur die Verweigerung von Gehorsam ist absolut unakzeptabel.“

Es gibt ein weiteres Ereignis aus der Zeit der Kulturrevolution, an das Dai Qing immer wieder erinnert hat. Es ging dabei um ihre Mutter Feng Dazhang, die seit den fünfziger Jahren in der Ölindustrie arbeitete und jetzt als Verräterin und Revisionistin Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

gebrandmarkt wurde. Auch Ye Xiangzhen war inzwischen in die Provinz geschickt worden, und einige seiner Kinder waren wie der Vater im Gefängnis. Dai sagt, daß sie das erste Mal die Menschlichkeit einer „Unperson“ sehen konnte, als ihr ein Ingenieur aus der Einheit ihrer Mutter half. Feng war damals lebensgefährlich erkrankt, und kein Parteimitglied wagte es, zu ihrer Unterstützung auch nur den kleinen Finger zu rühren. Zu dieser Zeit begann Dai Qing das erste Mal in ihrem Leben, mit Menschen außerhalb ihres „Kreises“ (quanzi) beziehungsweise sozialen Spektrums Bekanntschaft zu schließen. Erst als sie mit Menschen sprach, deren Leben die Partei zerstört hatte, begriff sie langsam, was diese Politik ganz normalen Bürgern des Landes antat.

Als Dai Qing und ihr Mann 1972 nach Peking zurückkehrten, war ihre größte Sorge die Wohnerlaubnis für die Hauptstadt. Um diesen Prozeß zu beschleunigen, nahmen beide eine Arbeit in der neu gegründeten „Fabrik des 29.März an, ein Unternehmen des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, das Überwachungsausrüstungen produzierte. Dai wurde zur Spezialistin für Fernsehkameras.

Dauerhafer Ruf als Agentin

Sie arbeitete dort bis 1977. In diesem Jahr bat sie Ye Jianyings Büro um Hilfe bei der Zulassung zum Auslandsspracheninstitut in Nanking (eine militäreigene Lehranstalt), wo sie dann Englisch studierte. Da sie bereits im Selbststudium Englisch gelernt hatte, konnte sie bereits im Sommer 1978 ihr Studium abschließen. Sie kehrte nach Peking zurück und arbeitete als Technikerin in einer Einheit des Oberkommandos. Nach der Veröffentlichung ihrer ersten Kurzgeschichte transferierte man Dai Qing in die Geheimdienstabteilung und besorgte ihr ein Cover, nämlich als Verantwortliche für Auslandskontakte in der Chinesischen Schriftstellervereinigung unter dem Dichter-Bürokraten Bi Shuowang. Durch diese Arbeit erwarb sie sich dann ihren dauerhaften Ruf als Agentin. Sie sagte später, sie habe zunächst keinerlei Ausbildung in Geheimdienstpraktiken erhalten und daß ihr Auftrag am Anfang nur gewesen sei, ihr Englisch zu verbessern und „Freunde zu machen“.

In den etwa zwei Jahren ihrer Arbeit in der Vereinigung (1980-1982) war es ihre (geheime) Aufgabe, Kontakte mit osteuropäischen Schriftstellern zu halten. Damals identifizierte man die Sowjetunion als größten Feind der VR China. Dai Qing war mit all dem, was von ihr in diesen Jahren erwartet wurde, extrem ausgelastet. Als Auslandsverantwortliche mußte sie Delegationen ausländischer Schriftsteller betreuen und begleiten, regelmäßige Berichte über ihre Arbeit und Kontakte schreiben und außerdem als Schriftstellerin publizieren.

Im Rahmen ihrer Arbeit in der Schriftstellervereinigung begleitete sie einmal auch den amerikanischen Schriftsteller Studs Terkel bei seinem Besuch in Peking. Der Autor hatte sich mit Interview-Bänden zur Zeitgeschichte einen Namen gemacht. Ihre Begegnung mit Terkel schulte sie darin, wie man Interviews macht, und beeinflußte sie zutiefst bei ihrer späteren Arbeit als Reporterin und als Schreiberin historischer Studien. Als sie durch einen Überläufer 1982 dem US-amerikanischen Geheimdienst gegenüber enttarnt wurde, beschloß die Volksarmee, daß sie ihr auf diesem Posten nicht mehr nützen könne. Sie mußte ihre Arbeit bei der Schriftstellervereinigung aufgeben und entschloß sich jetzt, ihr Arbeitsverhältnis mit der Armee endgültig zu lösen.

Durch eine Reihe glücklicher Umstände fand Dai zur Guangming- Tageszeitung, bei der sie 1979 ihre erste Geschichte veröffentlicht hatte. Man bot ihr den Posten einer Reporterin an, und da Dai Qing zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen hatte, fragte man sie sogar nach ihren Bedingungen. Dai Qing war, wie sie später sagte, über diesen Enthusiasmus einigermaßen überrascht, ließ sich jedoch gleich drei Bedingungen einfallen, unter denen sie bereit sei, bei der Zeitung zu arbeiten. Erstens: das Recht, sich nicht an die Bürozeiten zu halten; zweitens: zwar Artikel zu schreiben, nicht aber die von anderen zu redigieren; und drittens: keine Regierungsberichterstattung, da sie sich nur für die Basis interessierte. Obwohl diese Bedingungen nie schriftlich fixiert wurden, hielt sich die Zeitung bis zum Schluß daran. In seiner Denunziation in derselben Zeitung im September 1989 schrieb ihr ehemaliger Kollege Kuang Yan, daß Dai Qing „nur daran interessiert war, sich im ganzen Land herumzutreiben und Leute zu interviewen, die hartnäckig an ihrer Position des bourgeoisen Liberalismus festhielten“.

Von Anfang Mai an bewegte sich die Protestbewegung von Straßendemonstrationen zu Fahrraddemonstrationen, über die Rebellion der Presse hin zu den Hungerstreiks und schließlich zur Besetzung des Tiananmen-Platzes am 13.Mai. Dai Qing jedoch war nach dem 27.April, als eine riesige Menschenmenge aus Protest gegen einen Kommentar vom Vortag der regierungseigenen Volkszeitung auf die Straßen ging, davon überzeugt, daß die Studenten taktisch und moralisch bereits gesiegt hatten. Sie argumentierte so, daß die beste Strategie wäre, nicht weiter zu Demonstrationen aufzurufen. Als dann der Hungerstreik begann, warnte sie die Studenten, daß die Regierung nicht in der Lage sei, rechtzeitig und rational auf ihre Forderungen zu reagieren.

Sie wurde zur hilflosen Zuschauerin der Ereignisse, von den Studenten für ihre Position verhöhnt und wegen ihrer Vorsicht von früheren Freunden verlassen. Mehrere Male versuchte sie, die immer pessimistischer werdenden Ahnungen durch Vermittlungsaktionen zwischen den Gegnern zu bekämpfen. Dai Qing war von Anfang an davon überzeugt, daß der Protest von der Führung im Sinne ihres eigenen Machtkampfes manipuliert werden würde. Daher war sie auch nicht bereit, ihre eigene intellektuelle Unabhängigkeit an eine emotional hochgeputschte Situation zu verlieren. Nach der Erklärung des Kriegsrechts am 20.Mai sah sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Vorstellung, daß sie selbst und andere lediglich einem internen Machtkampf der Partei zum Opfer fallen würden, ließ ihr Engagement abkühlen.

Unmittelbar nach dem Massaker sprach sie über das Dilemma, an dessen Herstellung sowohl die Regierung als auch die Studenten im Mai beteiligt gewesen waren: „Ich glaube, daß weder Deng Xiaoping noch Li Peng zunächst eine solche Katastrophe wollten, und auch die Studenten waren nicht in erster Linie auf Unruhen aus. Das Furchtbarste ist jetzt, daß beide Seiten absolut auf ihrem Recht bestanden haben und keiner dem anderen auch nur ein Quentchen entgegenkam. Abweichende Positionen haben beide Seiten nicht wahrgenommen. Das Ziel war auf den gegnerischen Seiten fast das gleiche, allerdings war man sich absolut uneinig über die Mittel zu seiner Erreichung, und schließlich wurde das Ganze zu einem Kampf um Leben und Tod. Deshalb will ich jetzt nichts mehr mit Politik zu tun haben. Allein daran zu denken deprimiert mich. Warum hatte keiner genug Einsicht, um toleranter sein zu können? Am Ende war es so, daß die Studenten wirklich zum Sturz der Regierung aufriefen. Aber was wäre denn gewesen, wenn sie wirklich gestürzt worden wäre? Wer konnte sie ersetzen? Vom Standpunkt der Regierung her war dies natürlich extrem konterrevolutionär und ganz und gar unverzeihlich. Und so kam es zum Äußersten. Das alles zeigt vor allem das erbarmungswürdige Niveau der politischen Auseinandersetzung.“

Ihre erste Sammlung von Kurzgeschichten trägt den Titel: „Nein“. Dai Qing erklärte 1986, daß es in all ihren frühen Geschichten um Selbstachtung geht. Der Sinn für den eigenen Selbstwert, so sagte sie weiter, kommt nicht durch die Erlangung einer hohen Position zustande oder durch eine große Wohnung, er ergibt sich nicht daraus, daß man einen Chauffeur hat und Schmeichler einen umgeben. „Der höchste Ausdruck der eigenen Würde liegt in einem einzigen Wort: ,Nein!‘ Daß man nein sagen kann, wenn man nicht übereinstimmt.“ Dai Qing sagt auch nach ihrer fast einjährigen Haft, die auf die blutige Niederschlagung der Protestbewegung von 1989 folgte, weiter nein. In den letzten Monaten ihrer Haft im Qincheng-Gefängnis, der Haftanstalt für politische Gefangene im Nordwesten der Hauptstadt, durfte sie schreiben. Dort entstand unter anderem der Text „Meine Haft“ (Wode ruyu — siehe Kasten), ein Bericht über ihr Schicksal nach dem 4.Juni 1989. Sie bot den Gefängnisbeamten an, es zu lesen, fügte jedoch hinzu, daß sie kein Wort veröffentlichen würde, sollten sie auch nur ein Satzzeichen ändern. Daraufhin lehnte man ihr Angebot ab.

Akkurate Beschreibung der Gefängniserfahrung

In den Tagen, die unmittelbar auf ihre Freilassung am 9.Mai 1990 folgten, fügte Dai Qing ihrem Bericht ein Postskriptum hinzu. Darin schreibt sie, daß Häftlinge sehr unterschiedlich behandelt worden seien und betont, daß „Meine Haft“ lediglich eine akkurate Beschreibung ihrer eigenen Gefängniserfahrung ist.

Danach wurde das Manuskript durch einen Freund nach Hongkong geschmuggelt. Gleichzeitig sandte die Journalistin eine Kopie an Wenhui yuekan, eine oppositionelle Publikation in Shanghai. Sie erhielt keine Antwort, und wenig später wurde die Zeitschrift offiziell zur Schließung gezwungen.

Ursprünglich war die Erstveröffentlichung in Mingbao Monthly geplant, eine Zeitschrift, in der auch Dai Qings Studien der dissidentischen Intellektuellen Wang Shiwei und Chu Anping zuerst erschienen waren. Schließlich erschien „Meine Haft“, der erste Bericht dieser Art von einer Dissidentin, die nach dem 4.Juni im Lande geblieben war, jedoch in der Mingbao Daily. Auch die taiwanesische Lianhebao, eine der größten Tageszeitungen des chinesischen Inselstaates, druckte den Text als Fortsetzungsbericht Ende Mai.

Die Reaktionen aus dem Ausland kamen schnell und waren negativ. Man war über Dais Beschreibung der guten Behandlung durch ihre Peiniger enttäuscht und nahezu empört über die relativ anständigen Bedingungen ihrer Haft. Die Tatsache ihrer privilegierten Jugend und die herumgehenden Geschichten über ihre Agententätigkeit als Mitarbeiterin der staatlichen Geheimpolizei führten dazu, daß viele chinesische Leser und Kommentatoren ihren Bericht als pure Fabrikation abtaten.

Nichts, was Dai Qing schreiben konnte, hätte diese Leser von ihren Vorurteilen abbringen können. Und vermutlich macht die emotionale Reaktion auf die Demokratiebewegung, das Massaker und die darauffolgenden Säuberungen unter Chinesen und Sinologen es für nahezu jeden unmöglich, auf „Meine Haft“ fair oder auch nur rational zu reagieren.

Einer der wichtigsten Texte

Dennoch ist dieser Text — zusammen mit der Petition von Hou Dejian, Zhou Duo und Gao Xin vom 31.Mai 1990 für die Freilassung der politischen Gefangenen — einer der wichtigsten Texte aus chinesischer Feder seit dem Massaker vom Tiananmen- Platz.

Es gibt einige wichtige Punkte, die man bedenken sollte, wenn man „Meine Haft“ zu beurteilen sucht. Der erste betrifft Dai Qings gesellschaftliche Rolle, so wie sie sie seit Mitte der achtziger Jahre für sich definiert hat. In ihren eigenen Augen ist sie vor allem „eine unabhängige Intellektuelle“ (ziyou-pai zhishi fenzi) und hat in ihren wichtigsten Texten — darunter die 40 Interviews mit Intellektuellen, die sie zwischen 1986 und 1988 veröffentlicht hat, historische Studien und die Herausgabe kritischer Bücher über den Großwaldbrand von Daxing'angling und das Staudamm-Projekt „Drei Schluchten“ von 1988/1989 — die offizielle Politik der Regierung aufs schärfste kritisiert. Außerdem hat sie sich immer wieder für freie Meinungsäußerung und „loyale Opposition“ eingesetzt.

In vielen ihrer Texte kritisiert sie die Partei sehr viel offener und direkter als viele ihrer häufiger gelobten Mitdissidenten. Sie hat sich jedoch auch immer wieder als Kritikerin erwiesen, der ein Kompromiß lieber ist als Konfrontation und Einigung wichtiger als Zusammenstoß. Ihr Verhalten und Handeln während der Protestbewegung von 1989 waren das einer Vermittlerin, und mit dem Text über ihre Haft versucht sie sowohl diese Rolle im nachhinein zu rechtfertigen, als auch einen neuen Versuch zu machen, den extremen Antagonismus zwischen der Partei und ihren Gegnern zu überwinden. Das allerdings erscheint vielen als fruchtloses Unternehmen, und nicht wenige von Dai Qings Freunden rieten ihr, den Bericht nicht zu veröffentlichen.

Ein weiterer Punkt, den man nicht übersehen sollte, ist der Wert dieses Textes als Akt des politischen Protestes. Der Astrophysiker Fang Lizhi, offiziell wegen seiner „Unterstützung des bourgeoisen Liberalismus“ verdammt, brach Mitte des Jahres 1987 das erste Mal das Tabu, sich gegenüber Leuten außerhalb der Partei nicht zu rechtfertigen, da die Partei ihn nicht rehabilitiert hatte. Mit ihrem Bericht aus der Haft ging Dai Qing noch einen Schritt weiter. Sie verspottet nicht nur ihre Kritiker, sondern verteidigt sich selbst.

Ende der achtziger Jahre schrieb sie ihre historischen Studien über unabhängige Intellektuelle, die von der Partei verfolgt wurden. Damit hat sie, wie der Literaturhistoriker Zhu Zheng aus Hunan meint, diese Dissidenten „inoffiziell rehabilitiert“. In „Meine Haft“ rehabilitiert Dai Qing sich selbst.

Ein Haufen Bücherwürmer

Aber auch den Dissidenten gefiel ihr Text nicht. Besonders aufgrund der folgenden Passage über den Aktivisten der Demokratiebewegung, Yan Jiaqi, erhob sich bei ihren Lesern im Ausland ein Sturm der Entrüstung. Obwohl Yan und Dai befreundet waren, ist sie immer absolut gegen die von ihm betriebene Politik der Anheizung des studentischen Protestes gewesen.

„... Yan Jiaqi und seine Freunde... stellten eine Gruppe von Menschen dar, die absolut keine Ahnung vom inneren Funktionieren der Dinge hatten, keinen Takt besaßen, sich blind und emotional verhielten. Was für ein Haufen Bücherwürmer! Von Ende April an tat er (Yan) alles, was seine Gegner von ihm erhofften. Sie meinten, er sei in seinen Reden noch nicht radikal genug gewesen — also veröffentlichte er etwas wirklich Extremistisches. Dann hofften sie, er würde das letzte Tabu auch noch brechen (i.e. Deng Xiaoping namentlich angreifen), und schon hatte er es getan. Als nächstes meinten sie, Worte seien nicht genug, sie brauchten Handlungen —, sofort ging er los und machte Kontakt mit den Studenten. Aber auch das war noch nicht genug. Idealerweise, so hofften sie, würde er eine Organisation gründen —, und auch das kriegte er hin. Schließlich frustrierte sie, daß er noch nicht in Konflikt mit den Truppen geraten war, die das Kriegsrecht aufrechterhalten sollten —, also half er, die Armee zu attackieren. Obwohl sie inzwischen überzeugt sein mußten, daß das wirklich ausreicht, sahen sie vielleicht, daß das alles noch ein bißchen schwach wirkte. Das beste wäre, wenn er einen wirklich ernsthaften Gesetzesbruch hinlegen könnte — und er tat es...“

Für fast alle Beobachter war es sakrosankt, sich ein Jahr nach dem Massaker für ihre rationale (und wie sich herausstellt: humane) Haltung zu rechtfertigen, sowohl der Regierung als auch deren Gegnern Extremismus vorzuwerfen und jemanden wie Yan als einen Mann zu beschreiben, der sich von einer Welle des Gefühls hatte mitreißen lassen. Kaum jemand will über die Bedeutung dessen nachdenken, was Dais Haltung 1989 bedeutete und auch heute noch ausmacht.

Ein klarer Fall von Verrat

Sie hat, zugegebenerweise aus einer sehr privilegierten Position heraus, als Bürgerin der Volksrepublik China ihren Teil zur friedlichen Entwicklung demokratischer Verhältnisse in ihrem Land beitragen wollen und dann den existierenden Schutz des Gesetzes für ihre Verteidigung in Anspruch genommen. Dies ist ein langsamer und schmerzlicher Prozeß, den viele politische Aktivisten langweilig und frustrierend finden. Für sie ist Dais Haltung ein klarer Fall von Verrat, auch wenn sie sich etwas zweideutiger äußern. Daß Dai zur Zeit der Protestbewegung und auch in den darauf folgenden Säuberungen ihren Prinzipien treu geblieben ist und es dann sogar wagt, sich öffentlich mit einer Rechtfertigung zu Wort zu melden, entnervt die Menschen quer durch alle politischen Lager.

Welche Hoffnung hat Dai Qing auf eine Verbesserung und Erneuerung der Situation in China? Vielleicht beschreibt man ihre Haltung am besten durch einen Satz, den sie in einem Interview unmittelbar nach dem Massaker äußerte: „Alle Hoffnung auf Veränderung muß warten, bis die erste Generation unserer politischen Führer ausgestorben ist.“ In einem Interview im August 1990 spottete sie: „Man muß sich fragen, wer von diesen Arschleckern da oben (im Politbüro) sich eines Tages als ein Gorbatschow erweist.“ An anderer Stelle befürchtet sie allerdings, daß man darauf nur allzulange warten muß.

In ihrer Kurzgeschichte „Die letzte Ellipse“ schreibt sie über Pawlows Hunde und den Ausbruch eines von ihnen. „Mit dieser Geschichte wollte ich sagen“, so Dai, „daß selbst ein Tier Manipulationen nicht endlos erträgt. Ebensowenig kann man ständig Hoffnung wecken und sie dann immer wieder zerstören.“

Geremie Barmé ist Forschungsbeauftragter am Fachbereich für Pazifische und Asiatische Geschichte an der Australischen Nationaluniversität. Zusammen mit Linda Jaivin hat er einen Sammelband zeitgenössischer chinesischer Texte („New Ghosts, Old Dreams“ bei Times Books, Random House, New York 1992) herausgegeben.