Eine Wende mit Pannen

■ Premiere in der Komischen Oper in Berlin: Christine Mielitz hat Richard Wagners „Rienzi“ inszeniert

Bei Harry Kupfer hat sie assistiert, und das ist in der Komischen Oper vielleicht schon die halbe Miete. Als Chefregisseur hatte Kupfer aus diesem Ostberliner Nebenschauplatz einen zuweilen internationalen Hauptakt gemacht. Seine Opern spielten alle in der Gegenwart, sie sollten uns nicht beruhigen, im Gegenteil, sie hatten uns etwas anzugehen. Auch Christine Mielitz, ganz Schülerin im nicht vorwerfbaren Sinne, konnte nun an Wagners „Rienzi“ nicht inszenierend vorbeigehen, ohne mindestens an den Zusammenbruch des ostdeutschen Regimes, die Wende und an die Frustration zu denken, die danach kam.

Nur drängen sich alle diese Gedanken bei Wagners Jugendwerk nicht geradezu gebieterisch auf, sie liegen eigentlich sogar ziemlich fern, denn: Wer ist Cola Rienzi, seines Zeichens päpstlicher Notar im schwer dekadenten Rom des beginnenden 14. Jahrhunderts? Ein Problem bekanntlich, das mehr noch als die doch sehr unausgereifte Partitur dafür sorgt, daß diese Oper eher selten im Spielplan steht — in Berlin fehlte sie seit dem Krieg sogar ganz und gar.

Christine Mielitz hatte für die Wiedereinbürgerung des 150 Jahre alten Werkes den Hausstar Günter Neumann zur Verfügung, und er kommt als erstes von hinten, steht an der Brüstung des ersten Ranges, wenn er zu singen beginnt, und hat es daher doppelt schwer. Denn schon Wagner hat ihm ein heikles, nur spärlich vom Orchester unterstütztes Arioso in die Noten geschrieben. Und das Orchester, das ganz tief im Wagnergraben versteckt ist, wird sich an diesem Abend noch öfter als Spielverderber erweisen. Hier weiß es nicht recht, wie lange seine Pausen dauern, die Zeit eben, in denen sich Rienzi solo exponieren muß. Der Dirigent (Reinhard Schwarz) kann ihn nicht sehen, und Neumann vergreift sich prompt, schlingert in den hohen Tönen herum, daß es mit ihm einfach nicht gut enden kann.

Dafür sorgt natürlich schon die Handlung, der Stoff, um den sich diese Inszenierung grundsätzlich mehr bemüht als um faire Chancen, das riskante Singen auf offener Bühne zum Genuß werden zu lassen. Kaum hat die Ouvertüre etwas verwackelt geendet, ballern Choristen mit allerei Schreckschußpistolen und Maschinengewehren aufeinander los. Wagner spielt im Graben weiter, ist nicht zu verstehen, immerhin wissen wir jetzt, daß er die Bronx vorweggenommen hat. „Nobili“ heißen hier die Gangster, Cola Rienzis Schwester entkommt knapp einer Vergewaltigung zwischen Müllsäcken, welche Rettung sie dem liebenden Sohn des Oberschurken Orsini zu verdanken hat, der auch sonst die Handlung in Gang hält — eine Mezzosopran-Partie, die zur Zeit der Uraufführung (1842) vielleicht noch einen Kastraten beschäftigt hätte, hier aber von Annette Küttenbaum übernommen wird. Sie trägt einen roten Schal zur Anzugjacke, um ganz junger Mann zwischen den Klassen zu sein. Doch auch in Hosenrollenform ist dieser Bühnenfigur die hermaphroditische Künstlichkeit der Stimme nicht auszutreiben, und sie stürzt die Regie in arge Schwierigkeiten. Denn Christine Mielitz hat kein Hofdrama, sondern ein Lehrstück gesucht — und auf der Straße gefunden. Bei Wagner wird Rienzi zum romantischen Volkstribun (dem „letzten“), hier verteilt er den deutschen Einigungsvertrag unter das Volk, das die weißen Büchlein wie Maos Bibeln schwenkt, wenn es demonstriert.

Das geschieht oft, der Chor muß marschieren zu Wagners strammer Fanfarenmusik, bei Christine Mielitz ist kein Entkommen mehr. Mal paradiert eine Gruppe auf einem Laufsteg vor dem Orchester, später entern andere Abteilungen den Saal, stürmen zur Parkettür herein, umringen das Publikum und singen es wieder von hinten zu, von dort, wo schon Rienzi seinen Einstand gab. Nicht immer fördert dies Arrangement die Ordnung, zum Ende des zweiten Aktes versteht minutenlang eigentlich niemand mehr, was der Dirigent am Pult geschlagen hat, wir erleben bangend, wie ein Abbruch der Aufführung dann doch noch vermieden werden kann.

Premieren sind Nervensache, viel Lärm um wenig Substanz war das immer schon. Das Wort „Hoffnung“ trägt das Volk von Rom auf Transparenten vor sich her, die es der neuesten deutschen Revolution entliehen hat, das besagt nicht viel, und die Revolution geht in Rom wie in Berlin am Ende verloren an die alten Herren, die hier, in Berlin, in Maßanzug, Uniform und Talar auftreten. Auch das übrigens ist gute Kupfersche Methode, eine Klassenherrschaft über jeden analytischen Zweifel hinaus deutlichst darzustellen. General Orsinis Sohn muß sich entscheiden, es zerreißt ihm das Leidensgesicht zur Grimasse, doch kommt es auch zu rührenden Familienszenen. Rienzi Neumann legt ihm dann schon mal so rechtschaffen die Pranke auf die Schulter, daß der Sängerin wieder die Luft wegbleibt. Denn Annette Küttenbaums Stimme ist weich und voller Wärme, doch es fehlte ihr an Tiefe und Kraft, um in diesem Lärm zu bestehen — eine mutmaßliche Indisposition mag das für dieses Mal entschuldigen.

Viel wäre ja bei allen Pannen gewonnen, wenn wir endlich erführen, wer Rienzi ist, der Mann im Dienst der Kirche, der Recht schaffen will, seinen Feinden verzeiht, dann doch Krieg führt, gewinnt und dennoch das Vertrauen des Volkes verliert. So bei Wagner, und so natürlich erst recht in der Komischen Oper. Leichen liegen in Säcken verpackt auf der Bühne, wenn Neumann Gott um Hilfe anfleht, womit die schönste Stelle dieser Oper erreicht ist. Nie wieder hat Wagner eine Arie geschrieben, die so sehr nichts anderes sein will als große Oper. Schön will sie gesungen sein, nichts weiter als schön, und Neumann schafft es fast, sie bis zum Ende durchzuhalten, wie sein muß. Die paar falschen Töne mögen dem Premierenstreß zuzuschreiben sein, Neumann liegt zwischen den verpackten Leichen und verklingt im Piano, einen Augenblick lang hat diese Inszenierung Pause, wir dürfen zuhören und müßen nicht uns selbst wiedererkennen. Dann aber macht die Regie weiter und bleibt sich selber so treu wie das Bühnenbild von Gottfried Pilz, der den Horizont mit drehbaren Wandsegmenten zugestellt hat. Mauern für die Stadt, Spiegel für den Palast der Herren, Gänge für Volk und Krieger. Die schlichte Eleganz dieser Verwandlungen besticht, löst aber auch nicht das andere Problem, wer und was denn da aktualisiert werden solle, so heftig sogar, daß auch am Ende wieder mit Pistolen geballert werden muß.

Vor und nach der Wende bleibt alles beim alten, das scheint die Regisseurin uns durchaus selbstkritisch vorhalten zu wollen. Doch ihre Inszenierung entfaltet eine ganz andere Dialektik. Sie gerät zum historischen Genregemälde. Nicht die Verheerungen der Macht, nur Wagner ist ganz der Alte geblieben, er schlottert ein wenig unter dem Gewand, das aktuell sein will und doch aussieht, als sei es einer fernen Zeit entliehen, einer Epoche, in der ein Rienzi noch ausgesehen hätte wie ein Arbeiter im Sonntagsanzug. Wann mag das gewesen sein?

Der Volkschor wirft mit Büchern statt mit Steinen nach ihm, dem vermeintlichen Verräter, schmeißt mit den Texten des Einigungsvertrages, die Rienzi in seinem schlecht sitzenden Konfektionsanzug hat verteilen lassen. War er nun ein Krenz, oder ein Eppelmann, vielleicht ein Egon Bahr? Wenn die Oper so politisch sein will wie hier, wird man ja wohl mal fragen dürfen. Der Applaus war lang, wenn auch mit einigen Buhs für die Regisseurin durchsetzt. Beides geht in Ordnung — mangels anderer Qualitäten ist ein wenig Streit nicht das Dümmste, womit eine Saison eröffnet werden kann. Niklaus Hablützel