Eine Gnadenfrist von vier Wochen

Die „Märkische Faser AG“ nimmt Kündigungen für über 2000 Beschäftigte vorläufig zurück, doch das Werk bleibt besetzt/ Mißtrauen gegen Treuhand, Vorstand und Landeschef Stolpe  ■ Von Julia Albrecht

Premnitz (taz) — „Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“ Dieser Engels-Spruch steht, in Stein gemeißelt, hinter dem Werktor II der Märkischen Faser AG, und er ist die Devise der Premnitzer Chemiefacharbeiter. Vor vier Tagen haben sie von der Stillegung ihres Werkes durch den Vorstand erfahren, und seitdem halten sie ihr Unternehmen besetzt. Tag und Nacht harren sie an den Werkstoren aus. Premnitzer Bürger bringen ihnen Brötchen, Kuchen und Kaffee.

Ein Fernsehapparat steht am Samstag auf dem Fenstersims des Pförtnerhäuschens. Ein ums andere Mal läuft eine Videoaufzeichnung der Berliner Abendschau vom Freitag. Sie berichtet vom vorläufigen Erfolg der Fabrikbesetzer, davon, daß die Frist bis zur Arbeitslosigkeit noch mal um vier Wochen verlängert wurde. Wie gebannt schauen die Besetzer auf den Bildschirm, sie gucken sich selbst zu.

Als Reaktion auf die Werksbesetzung hatte der Vorstand der Faser AG am Freitag nach dreistündigen Verhandlungen mit der Treuhand und der brandenburgischen Landesregierung in der Potsdamer Staatskanzlei die Kündigung aller 2155 Arbeitnehmer mündlich zurückgennommen. Zusätzlich sagten der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe und ein Vertreter der Treuhand 25 Millionen Mark zu, um die Premnitzer Faserfabrik die nächsten vier Wochen über Wasser zu halten. „Vier Wochen, das ist nicht mehr als die Chance zum Atemholen“, sagt Betriebsratsvorsitzender Mathias Hohmann. „Für uns heißt das, daß wir so lange besetzen, bis wir ein Dokument haben, daß dieses Geld tatsächlich fließt. Das halten wir nämlich noch nicht für sicher.“ Derweil dürfen fertige Produkte das Werk wieder verlassen. Die Belegschaft kontrolliert jedoch deren Inhalt. Ein tiefes Mißtrauen läßt sie prüfen, ob nicht vielleicht heimlich Vermögenswerte weggeschafft werden. Auch wenn die 25 Millionen tatsächlich gezahlt werden und damit fürs erste weiterproduziert werden kann, so mangelt es doch an einem realistischen Zukunftskonzept für die Faser AG. An diesem war der Betrieb nämlich jetzt gescheitert. Am 1. Januar dieses Jahres war die Chemiefirma, einer der größten Chemiefaserhersteller Europas, von der Alcor Chemie AG, einem schweizerischen Handelsunternehmen, für 5 Millionen Mark von der Treuhand übernommen worden. Die bereits im Oktober geschlossenen Kaufverträge sahen eine Investition von 100 Millionen Mark vor; bis dato hat die Alcor AG lediglich 7 Millionen Mark in das Unternehmen investiert. Vor allem aber legte Alcor Rahmenverträge mit einer Laufzeit von 5 Jahren zur Lieferung von jährlich 100.000 Tonnen Chemiefasern an die damals noch bestehende Sowjetunion vor. Nach deren Zusammenbruch hoffte die Alcor zunächst noch, die Verträge auf anderer Grundlage aufrechterhalten zu können, da die Chemiefasern von Rußland, der Ukraine und Kasachstan dringend benötigt werden. Da die Geschäftsmöglichkeiten mit Rußland nun geplatzt seien, so der Präsident des schweizerischen Unternehmens, Günter Zobel, sei die Grundlage des Kaufes entfallen. Zudem seien andere Abnehmer nicht ersichtlich.

Die Faser AG an der Friedrich- Engels-Straße 1 liegt am Rande von Premnitz, einer 11.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Rathenow. Die Fabrik ist das größte Unternehmen im westlichen Havelland. Vor der Wende spannen hier 6400 ArbeiterInnen hauchdünne Fäden zu Viskose, Polyacryl und Polyester. Stoffe, die vor allem für Kleidung verwandt werden. Heute sind die meisten Produktionshallen stillgelegt. Die Vorwürfe der Belegschaft richten sich gegen die Treuhand. In eine Viskose- Fabrik im sächsischen Elsterberg werde investiert, schimpfen sie, während man die für Premnitz notwendigen Gelder verweigere. Der Hauptbetrieb hätte längst auf technische Fasern umgestellt werden müssen. Dieser Asbestersatz hätte die Konkurrenzfähigkeit auf den westlichen Märkten sichergestellt.

Es geht das Gerücht, mit der Schließung der Faser AG sollte ein Konkurrent „aus dem Weg geschafft werden“. „Die Leute, die die Sanierungsfähigkeit untersucht haben, waren von Bayer“, spekuliert Hans-Jürgen Ebert vom Betriebsrat. „Die arbeiten für ein halbes Jahr bei der Treuhand und gehen danach zurück zu Bayer. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß die neutral sind.“