Kopfgeburt mit Vorahnungen

■ Hugo von Hofmannsthals „Der Turm“ am Deutschen Theater Berlin

Am Ende gerät die Katastrophe zum Freudenfest. Denn kaum hat sich über dem kommenden Unheil der Vorhang gesenkt, mündet beklommene Stille in donnernden Applaus. Und inmitten seines bis in die kleinste Rolle hochkarätig besetzten Ensembles genießt ein strahlender Thomas Langhoff den verdienten Triumph. Hugo von Hofmannsthals nie gespielte Kopfgeburt „Der Turm“, plötzlich hochaktuell und hinreißend leichtfüßig auf die Bühne des Deutschen Theaters gebracht.

Hofmannsthal, der Dichter im Spagat zwischen zwei Jahrhunderten, dem der Sprung ins neue, ins 20.Jahrhundert nicht glücken wollte und der sich von seinem verlorenen Posten aus dennoch immer wieder gefährlich nah an die Geburtsfehler des gerade werdenden Zeitalters heranschrieb. Hofmannsthal, der den Hoffnungen und Plänen des neuen Jahrhunderts mißtraute, lange bevor sie Hekatomben von Toten produzierten. Da kann es kein Zufall sein, daß nun, da alle Utopien bankrott sind, ein Stück zu Aktualität gelangt, das die Monströsitäten, die uns ein Leben lang aus den Geschichtsbüchern anstarren, in ihrem Werden beschreibt, und die erschreckende Einsicht beschert, daß sich seitdem nichts, aber auch gar nichts verändert hat.

Aber noch stehen wir ja am Anfang. Als „Der Turm“ entsteht, schreiben wir das Jahr 1921. Eine Variation über Calderons „Das Leben ist Traum“. Ein marodes Königreich, ein verbannter Prinz, korrupte Höflinge und ein eitler König, von der Macht besessen, die ihn langsam verläßt. Das Volk murrt, der Mob ist auf dem Vormarsch. Hinter den Kulissen proben die verschiedensten Kräfte den Umsturz. Im Volk geht die Mär um vom gefangenen Prinzen als dem Erlöser von allem politischen Übel. So mancher Machthaber in spe hofft, daraus sein Kapital zu schlagen, die Tage des Prinzen in Gefangenschaft sind gezählt.

„Hofmannsthal sucht einen neuen Messias und findet Kaspar Hauser“, schreibt Langhoff. Und einem Kaspar Hauser begegnen wir dann auch in jenem Prinzen Sigismund, den sein Vater, König Basilius, wie ein Tier in ein Erdloch gesperrt hat. Nie habe ich Daniel Morgenroth so gut gesehen wie in der Haut dieses Prinzen. Ein Wolfsjunge, mehr Tier als Mensch zunächst. Dann edler Wilder im Angesicht des Arztes, der ihm, dem Faustpfand neuer Macht im zerfallenden Königreich, den Weg zurück in die Zivilisation ebnen soll; verlorener Sohn und verstocktes Kind, als er in seiner Zelle der einstigen Pflegemutter (Jutta Wachowiak) gegenübersteht. Gewaschen und gestriegelt schließlich im Konfirmandenanzug, als er vor dem königlichen Vater (Jörg Gudzuhn) eine gute Figur machen soll und erst wie ein begossener Pudel dasteht, bevor er den Vater im Zweikampf dann doch zu Boden zwingt. Auf dem Thron des inzwischen entmachteten Vaters — im Henkerskleid und halb ohnmächtig noch vor Todesangst — als Taktierer zwischen Putschisten und Gegenputschisten.

Am Ende dann ein tragischer Held, ein erleuchteter Märtyrer, der sich weigert, die Hoffnungen zu erfüllen, die man in ihn setzt. Ein Erlöser, der an der Erlösung kein Interesse mehr hat. Daniel Morgenroth gelingen diese Metamorphosen scheinbar mühelos. Ohne diesen Balanceakt wäre Langhoffs Rechnung nicht so leicht aufgegangen. Trotz anderer schauspielerischer Glanzleistungen: Jörg Gudzuhn als König Basilius, Dieter Mann als Julian und Rolf Ludwig als Diener Anton, Reimar Johannes Baur als Arzt und Eberhard Esche als Kardinal. Denn warum die Verweigerung, jenes „... aber ich will nicht“, das Sigismund der Welt, die ihn für ihren Retter hält, entgegnet, die einzig mögliche Haltung sein soll (wie Langhoff behauptet), diese Frage wird von der Inszenierung nicht wirklich berührt.

Ein Erlöser, der zum Erlöser nicht taugt und der auch keine Marionette im politischen Ränkespiel sein will, muß sterben. Die Macht über den Mob und bald schon im Staat hat inzwischen ein Gefreiter namens Oliver (im Nazikostüm: Frank Lienert). Als Sigismund mit ihm nicht paktieren will, schickt er einen Schergen los: „Ich brauche einen Kerl, ähnlich ihm zum Verwechseln und der mir pariert wie der Handschuh an meiner Hand.“ Und während der echte Prinz, von der Kugel eines Attentäters getroffen, stirbt, schiebt Oliver seinen Doppelgänger schon auf den Balkon. Das Volk jubelt ihm zu, der Rest ist die bekannte Geschichte. Oder „Back to the Future“ vielleicht? Zum Glück sind wir nur im Theater. Esther Slevogt

Hugo von Hofmannsthal: „Der Turm“. Regie: Thomas Langhoff. Mit Daniel Morgenroth, Jörg Gudzuhn, Dieter Mann, Rolf Ludwig, Reimar Johannes Baur, Eberhard Esche, Kurt Böwe, Dietrich Körner, Otto Mellies, Michael Schweighöfer, Frank Lienert. Deutsches Theater, 4./8./13./16.10.