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Vom Lesen von Speisekarten

■ Rockendorf für alle: Berlin probt das »Menü 2000«

Journalist müßte man sein. Es ist nämlich ein Irrtum zu glauben, diese subliterarischen Wesen säßen mit gebeugtem Rücken über offenen Honorarposten. Nein, in Wahrheit sind sie Abenteurer des Urbanen: eben haben sie noch einen Jungliteraten, -künstler etc. verarztet, da empfangen sie schon den warmen Händedruck des Akademiepräsidenten. Zutritt haben sie selbstverständlich überall, Produkte zur Rezension fliegen ihnen wie gebratene Tauben in den Schlund, und ganze Heerscharen von rentenversicherten Öffentlichkeitsarbeitern mühen sich rund um die Uhr, den Journalisten mittels Einladungen an seine Rolle als Multiplikator zu erinnern.

Um gebratene Tauben geht es aber doch eher selten. Und Einladungen zu Rockendorfscher Nahrungsmittelaufbereitung erreichen auch Journalisten nicht alle Tage — auch wenn der in diesem Fall außerhalb seines sterngekrönten Restaurants, dafür aber für den guten Zweck, Behindertensport und Olympia 2000 kochte bzw. kochen ließ. Der Name zieht. Wie oft hatten wir nicht vor den neufranzösischen Menü-Palästen mit Preisschranke verharrt, um die Speisekarte zu entziffern. Eine ganz neue Welt der Gelees, Haschees und parfaits tat sich auf. Wo, wenn nicht hier vollendete sich die Postmoderne: in den unendlichen Möglichkeiten von Streckung, Variation und Kombinatorik der Natursubstanzen und Fruchtessenzen.

Unfreiwillig erlebten wir eine Revolution, die auf dramatische Weise gepaart war mit der Renaissance von Schwarzwurzel und Wirsing. Zwar wurde Radicchio als Salat etabliert, aber bitte mit den Scheiben sonnengereifter Orangen und den Kernen biologisch angebauter Walnüsse. Die »Nouvelle Cuisine« hat nicht nur eine neue Mikrophysik des Kochens hervorgebracht, sondern auch die Poesie der Speisekarte in ungeahnte Höhen gehievt. Weg mit der Roulade nach Hausfrauenart, her mit der »Roulade vom Galloway Rind«. Noch bevor sich das Rollfleischgebinde als nicht außergewöhnlich entpuppt, zerläuft das Wort »Galloway« auf der Zunge, ergeht sich die Phantasie in Bildern friedlich grasender Tiere aus weiten, bergumkränzten Prärieflächen.

Nun ist Siegfried Rockendorf ein Mann, der nach eigenem Bekunden eine Currywurst dann und wann nicht verschmäht. Damit ist er ein hervorragender Partner für die Wittenauer »Wein Compagny«. Die hat sich die entschiedene kulinarische Verbesserung Berlins auf die Fahnen geschrieben, aber bitte volksnah. Und weil gar nicht erst der Eindruck entstehen soll, hier würden Firmenname und Sortiment — wirklich tolle Weine — krude vermarktet, arbeitet man auf der Basis des rundum erweiterten Kulturbegriffs. Ein Jahr vor der IOC-Entscheidung ist das Sponsoring der Berlin-Bewerbung fast schon mehr Pflicht als Kür. Die Serie »Berlin 2000« mit Sekt und Weinen ist jedenfalls aufgelegt, eine Mark pro verkaufter Flasche fließen dem Bewerber zu.

Zur Kür gehören schon eher die ein- bis zweimal jährlich veranstalteten Feste der »Compagny«. Da gibt es gepfefferten Pauschaleintritt, exquisite Weinproben und mehr oder minder erlesene Happen, aber es geht doch auch herzhaft berlinerisch zu. Auch die anwesende Schar vermögender Kaufleute läßt sich gern animieren, mit Konfetti bestreuen, um schließlich mit locker gezogenen Banknoten die soziale Ader zu beweisen. Versteigert wurden am vergangenen Wochenende 30 Kisten hochwertigen Chardonnay- Weins, der Erlös wird im Zeichen von Olympia dem Behindertensport zufließen. Wären die jungfrauenhaften Mädchen, die eine Stunde zuvor Dessous vorführten, unter den Hammer gekommen — manch einer hätte sich da sicher überboten.

Und Rockendorf, dessen Menü man sich an Imbißständen zu erlaufen hatte? Der Schinken von Lamm und Wildschwein mit gehobeltem Kren war gewiß etwas Besonderes, das Galloway-Rind wirkte dagegen etwas zäh. Superb die Semmelknödel, die zum unentschieden wirkenden Rehgulasch gereicht wurden. Aber, da war ja noch die trefflich mit Essig abgeschmeckte Linsensuppe, gereicht mit einem Kümmelwürstchen.

Letztlich war es dann die Rostbratwurst mit Senf und Brötchen, die den Gast davon überzeugte, auch bisher nicht allzu schlecht gegessen zu haben. Sie beförderte sogar eine Vision: die Olympiabewerbung reißt Berlin in einen unentrinnbaren Strudel der Konvergenz. Im Jahr 2000 wird es uns allen bessergehen — bei Linsensuppe und Rostbratwurst. Bernd Gammlin

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