Hart im Raume

Vom Sonntagsvergnügen der kleinen Leute zum durchorganisierten gesellschaftlichen Großereignis: Ein Buch über »Berliner Sportstätten«  ■ Von Hans-Joachim Neubauer

Was tut man mit einem »Schwingel«? »Eines Tages«, erinnert sich der Schriftsteller Ludwig Rellstab an seine Berliner Kindheit um 1810, »hatte ich mit meinem Vater einen Spaziergang in die Hasenheide gemacht. Wir trafen dort eine Schar junger Leute, vielleicht zwanzig oder dreißig, die sich unter einem älteren Führer, einem kräftigen, freundlichen Manne, im Werfen eines an der Spitze mit Blei beschwerten Stockes nach einem Ziel übten. Wir schauten zu; der Führer der jungen Leute trat freundlich auf mich zu und fragte, ob ich auch einen Versuch machen wollte? Ich tat es, er fiel glücklich aus, und ich gewann mir seinen Lobspruch.« Der Knabenführer ist Ludwig Jahn. Schon bald darauf wird er zum Guru der Epoche und beugt und biegt kindliche Körper und deutsche Wörter nach allen selbsterstellten Regeln der Kunst. Deutsch muß es schon sein: »die Ausländerei zu verbannen« nimmt sich Jahn schon 1814 vor, drei Jahre bevor Turner und Studenten auf der Wartburg ihre tumbe Bücherverbrennung inszenieren.

Nach einigem Hin und Her erkennen schließlich auch die preußischen Machthaber den disziplinierenden und volkspädagogischen Nutzen des erst verfemten Turnens. Aus der Ertüchtigung der als gefährlich angesehenen Spinner und Deutschtümler um Jahn wird das behördlich genehmigte Massenspektakel. Die Turner organisieren sich in Vereinen, und immer mehr suchen Erholung von der Großstadt im sportlichen Amüsement.

Sport muß man auch anschauen können, und um Akteure und Zuschauer zusammenzubringen, braucht es spezielle Theater. Die Geschichte und Architektur dieser Gebäude, Hallen, Stadien, Plätze und »Kampfbahnen« in Berlin erzählt Gerhard Fischers sportlicher Stadtführer. Sein Buch ist ein Katalog der Orte, in denen das Vergnügen der Kleinen Leute zum gesellschaftlichen Großereignis oder zum geschickt arrangierten politischen Ritual wird. Wie Sport und Politik historisch ineinandergreifen, diskutiert Fischer am Beispiel des Olympiastadions, wieviel der Sport gemein hat mit der kommerziellen und politischen Showbranche, zeigt die Geschichte der Deutschlandhalle und die der Werner-Seelenbinder-Halle.

Besonders interessiert Fischer, Historiker an der Humboldt-Universität, welche Rolle der Sport und vor allem das Zuschauen für die kleinen Leute spielten: Beim Sport findet man zusammen, hier unterhält man sich und geht aus sich heraus. Auch die Linke organisiert sich 1890 im Turnverein »Fichte«, von dessen Aktivitäten der »Kampfgenoss — Zeitschrift für proletarische Geistes- und Körper-Kultur« berichtet. Über den kommunistischen Ringer Werner Seelenbinder erfährt man von Fischer zum Glück mehr als über die Tennis- und Polo-Exile der Berliner Reichen.

Das beste Amüsement bietet in Berlin nicht das große Stadion mit den zelebrierten Leichtathletik- Shows, sondern immer wieder die »Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße«, das Strandbad Wannsee, die Regattastrecke Grünau, die Mariendorfer Pferderennbahn des Verlegers Bruno Cassirer und die Traber in Karlshorst. Über Karlshorst als geselliges Ereignis zitiert Fischer den Berliner Publizisten Paul Lindenberg (1854-1943): »Hier ist das eigentliche Berlinertum vertreten mit einer Fülle von Witz und Spott, Ironie und Hohn, hier kann man das echteste ‘Berlinisch‚ hören, mit launigen Fragen und schlagfertigen Antworten. Die untersten Volkskreise sind zumeist hier zu finden, Handwerker, kleine Beamte und Kaufleute, Kontordiener, Feldwebel und Unteroffiziere, sie sind häufig mit Frau und Kindern hier herausgepilgert und haben die innigste Freude an dem freien Nachmittage, sie fühlen sich hier unendlich behaglich, denn hier gibt es immer etwas zu hören und zu sehen, hier kann man sein Bier, auf dem Rasen gelagert, trinken und kann nach Herzenslust ‘klug schnappen‚ und schließlich noch ein Nickel oder gar Mark, wenn einem das Glück hold ist, gewinnen.«

In Berlin gehört sogar die Heimfahrt von der Vergnügung zum sportlichen Ereignis dazu. Frau Wilhelmine Buchholz, die Heldin eines Romans von Julius Stinde (1841-1905), erzählt über die Heimfahrt von der Regattastrecke Grünau mit der Vorortbahn: »Die Landstraße, welche neben der Bahn herläuft, war voll von Fuhrwerk. Aus dem Zuge wurde den Fahrenden auf der Landstraße mit Taschentüchern zugewinkt, und sie winkten munter wieder, einerlei ob sie in Equipagen saßen, oder in Kremsern, oder auf Milch- und anderen Wagen, wo sie familienweise Platz gefunden hatten. Das kam wohl daher, weil alle gleich froh waren, über das Wetter, über unseren Kronprinzen und über die Siege. Und der Kronprinz hat sich auch über seine Berliner gefreut, das sah man ihm an.«

Der handliche Band ist gut mit Fotos und Anmerkungen zu den historischen Persönlichkeiten ausgestattet. Man kann sich schnell von jeder Anlage ein genaues Bild machen, teilweise sind auch Adressen und Öffnungszeiten angegeben. Alles wirkt klar und übersichtlich, und was man mit dem »Schwingel« und dem »Springel« macht, erfährt man auch. Dabei ist Fischer selber nie in Gefahr, von der Dynamik seines Themas ergriffen zu werden. Entschieden unsportlich bringt er seine Sätze zu Papier, von denen der schönste sicherlich der ist, mit dem er die jetzige Debatte um Olympia skizziert: »Doch hart im Raume stoßen sich hier im Augenblick viele Sachen.«

Gerhard Fischer: »Berliner Sportstätten. Geschichte und Geschichten«, Ch. Links Verlag, Berlin 1992, 197 S. gebunden, zahlr. Abb., 29,80 DM.