Das Brot der ganz frühen Jahre

■ „Humus“ für später: Bölls post hum erschienener erster Roman „Der Engel schwieg“

Das Thema war nicht neu, schon damals nicht: Das Drama vom deutschen Soldaten, der nach dem verlorenen Krieg nach Hause kommt und dann doch nicht nach Hause kommt, weil es für ihn keine Heimat mehr geben kann, hatte bereits im Herbst 1946 der todkranke Wolfgang Borchert in „Draußen vor der Tür“ durchexerziert. Heinrich Böll kannte des Dichters Werke: „Meisterhafte Kurzgeschichten, kühl und knapp, kein Wort zu viel, keines zu wenig.“

In den Jahren 1949 bis 1951 schrieb Böll seine eigenen Erfahrungen mit jenem Jahr 1945 nieder, in dem der Krieg endete und der Kampf ums Überleben in der Trümmerwüste Deutschland seine Fortsetzung fand (zur Editionsgeschichte vgl. taz vom 27.5.92). Im erst jetzt, zum 75.Geburtstag posthum erschienenen Roman „Der Engel schwieg“ läßt Böll den Buchhändler Hans Schnitzler (!) in eine zerstörte Stadt zurückkehren, die unschwer als Köln zu erkennen ist. Den Krieg hat der Deserteur nur überlebt, weil ein anderer an seiner Stelle erschossen wurde. „Ihr Mann hat mir meinen Tod gestohlen“, wird Schnitzler dessen kranker Witwe erklären, als er ihr das Testament ihres Mannes bringt. „Ich begreife jetzt, daß man jemand das Leben schenken kann, indem man ihm den Tod stiehlt.“

Als lebender Leichnam irrt Schnitzler auf der ständigen Suche nach Brot durch die in Schutt und Asche liegende Stadt. Der Stadt fehlt jede Farbe, nur das Grau der Trümmer und das Todesweiß des bröckelnden Kalkputzes kehren immer wieder. Als Schnitzlers Lebensgefährtin ihn mit dem vertraulichen „Du“ anspricht, trifft ihn das zärtliche Wort „wie ein Schlag“. Die Welt außerhalb seines Zimmers kann er nur schwer ertragen, ein draußen zwitschernder Vogel läßt Schnitzler das Fenster schließen: „Drinnen war es nun wieder dämmrig und ruhig.“ Bölls Protagonist begegnet schon in diesem ersten Roman den Figuren, die in seinen Werken als Prototypen jener, O- Ton Böll, „auf Besitzerwerb und Familienegoismus begründeten bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft“ immer wiederkehren sollten: dem skrupellos opportunistischen Kriegsprofiteur, den unchristlichen Verbandskatholiken und den vom Krieg gelähmten Idealisten, die zunächst die Toten beneiden und erst langsam den Mut zum Weiterleben wiedergewinnen. Beinahe unvermittelt stehen die 19 Kapitel des Romans nebeneinander. Böll erzählt episodenhaft und entwickelt in jedem Abschnitt in sich abgeschlossene Welten. Im zweiten Kapitel etwa erinnert sich Schnitzler an die Postkarte, mit der er zum Kriegsdienst einberufen wurde. Der bis ins Detail entwickelten Rückblende ist anzumerken, daß sie ursprünglich als eigenständige Kurzgeschichte geschrieben wurde. Leitmotive wie das „süß riechende und süß schmeckende Brot“, für den heimkehrenden Soldaten der Inbegriff des Lebens, der Geruch von Blut und die überall in den Trümmern überlebenden Marien- und Engelsfiguren verbinden formal die Schicksale der Hoffnungslosen.

Als „Böllscher Urfaust“ und „Steinbruch und Humus“ für spätere Werke müsse „Der Engel schwieg“ fortan begriffen werden, postuliert der Verlag im Klappentext. Wer den Roman liest, ohne dabei den späteren Werdegang seines Autors als Qualitätsmaßstab anzulegen, wird vor allem einen Text entdecken, der in seiner phrasenlosen Sprödigkeit und Hoffnungslosigkeit die restaurativen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Perspektiven des vergangenheitsverdrängenden Nachkriegsdeutschland voraussagt. Böll hat dessen Entwicklung zeit seines Dichterlebens kritisch weiter begleitet. Stefan Koldehoff

Heinrich Böll: „Der Engel schwieg“. Mit einem Nachwort von Werner Bellmann. Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln 1992, 29,80 DM.