In Übereinstimmung mit der Führung

„Täter, Opfer, ,Unbeteiligte‘“: Raul Hilbergs Kasuistik der Judenvernichtung  ■ Von Christian Semler

Raul Hilberg, der stets betont, kein Historiker zu sein, dessen jahrzehntelanger, mit kalter Leidenschaft betriebener Forscherarbeit wir das große Werk über die Vernichtung des europäischen Judentums verdanken, hat 1992 eine neue Arbeit veröffentlicht: „Täter, Opfer, ,Unbeteiligte‘“.

Hilberg hat es sich stets versagt, die Frage nach dem „Warum?“ zu stellen. Ihm ging und geht es um Rekonstruktion, darum, ein minutiöses Bild des Prozesses der Vernichtung nachzuzeichnen: „Erfassung“ — „Isolation“ — „Konzentration“ — „Deportation“ — „Endlösung“. Dem Massenmord lag Hilberg zufolge kein vorgefertigter Plan zugrunde, seine Etappen folgten nicht zwingend aus der nationalsozialistischen Ideologie, noch weniger aus irgendeinem verhängnisvollen Sonderweg der deutschen Geschichte. Schritt für Schritt, fast wie im Verfahren von „trial and error“ tasteten sich die Nazis an das Verbrechen heran. Hilberg zeigt, daß es keinen Führerbefehl gab, die Juden Europas auszulöschen. Direktiven waren oftmals in unklaren Termini abgefaßt. Wohl aber gab es ein Einverständnis, eine Verabredung, die den mit den Mord Befaßten die Sicherheit gab, in Übereinstimmung mit den Führungsgruppen zu handeln. Die Mordmaschine wurde von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und psychischer Disposition bedient, keinesfalls nur von einer Bande deklassierter, seelisch zerrütteter Desperados. Sie war ein riesiges Räderwerk, beschäftigte ein Vielzahl von Behörden und Dienststellen. Zum Teil arbeitete sie am hellichten Tag. Die Nazis versuchten, die Details der Vernichtung geheimzuhalten, aber für einen Deutschen bedurfte es keiner übermäßigen Anstrengung, um herauszufinden, wohin die Reise in den vollgepferchten Güterwaggons ging.

Bei seiner insistenten Aufklärungsarbeit an dem „Wie“ der Judenvernichtung wurde Hilberg mit unzähligen biographischen Details vertraut. Er verfolgte die Spur der Täter wie die der Opfer in Personalakten, amtlichen Schriftstücken, Berichten der Überlebenden wie der ungestraft Davongekommenen. Sein neues Werk macht von dieser Vorarbeit Gebrauch: Es versammelt Biographien. Hilberg will aber nichts weniger als uns das Grauen durch psychologisch und sozial ausgeleuchtete Lebensberichte nachvollziehbar — und damit erträglicher machen. Er will keine anspruchsvolle Version der unsäglichen Holocaust-Hollywood-Serie. Sein Verfahren ist typisierend, seine Darstellungsweise knapp, distanziert, ohne jedes Pathos. In einer imaginierten Arena agieren Täter, Opfer — und Zuschauer. Denn in diesem Drama gibt es kein Publikum auf den Rängen.

Die Gruppe der Täter gliedert Hilberg nach Gesichtspunkten der beruflichen Herkunft und Bildung, der Nationalität, der Generationenfolge. Das Portrait Hitlers, mit dem das Buch beginnt, beeindruckt durch den Lakonismus und die Nüchternheit des Urteils: „Hitler war einer jener Kleinbürger, die Mercedes-Aktien kauften und Quittungen für Mietzahlungen aufbewahrten“.

Hilberg kann und will keine Erklärung für Hitlers Judenhaß geben. Dafür demonstriert er um so gründlicher, daß alle wesentlichen Merkmale von Hitlers Herrschaftsausübung sich aus den Etappen der Judenverfolgung rekonstruieren lassen. An den Tätertypen, die uns Hilberg in knappen Strichen skizziert, ist für den heutigen Leser — auch wenn er Hannah Arendts Einsicht in das Banale des Bösen nachvollzogen hat — deren Normalität erschreckend. Am Fall des Polizeioffiziers Lechthaler wird der gleitende Übergang vom anfänglichen Widerstreben gegen die Teilnahme am Verbrechen bis zu dessen routinemäßiger Ausführung evident. Was den Männern eben anfangs fehlte, bemerkt Hilberg kalt, war die Praxis.

Woran lag es aber, daß so viele angesehene Juden im besetzten Europa einwilligten, als Mitglieder der von den Nazis eingesetzten „Judenräte“ an der Vernichtung ihres Volkes mitzuwirken? Warum gab es andererseits so wenig bewaffneten Widerstand, unter den Juden des Westens ebenso wie in den Ghettos Osteuropas — selbst als feststand, daß Passivität Tod bedeutete? Im zweiten Teil seines Werkes, das den Opfern gewidmet ist, entrollt Hilberg mit niederdrückender Präzision, wie sich die Kasuistik nationalsozialistischer „Erfassung“ und „Behandlung“ des Judentums in Einzelschicksalen niederschlug. Vor allem aber geht es ihm darum, die Geschichte von „Anpassung und Widerstand“ biographisch aufzuhellen. Hilberg und, ihm folgend, Hannah Arendt, vertraten schon in den sechziger Jahren die Auffassung, die „Judenräte“ seien mitverantwortlich dafür gewesen, daß die „Endlösung“ derart reibungslos funktionierte. Beide sahen sich deswegen oft unqualifizierten Angriffen von zionistischer Seite ausgesetzt. Jetzt entwirft Hilberg noch einmal eine Typologie der Rats-Ältesten — vom korrupten Autokraten des Lodzer Ghettos Rumkowski bis zu dem skrupulösen Verwaltungstechniker Ciernakow, dem Chef des Warschauer Ghettos, der sich, als alle Hoffnung auf Rettung seiner Schutzbefohlenen dahin war, das Leben nahm.

All diesen tragischen Figuren ist gemein, daß sie ans Überleben wenigstens des Kerns der Ghetto-Bevölkerung glaubten, daran, durch harte Arbeit und Loyalität die „Herrenmenschen“ zu verpflichten. Deshalb entmutigten sie — wie der Chef der jüdischen Hilfspolizei im Wilnaer Ghetto Gens — auch den zaghaftesten Versuch zum bewaffneten Widerstand. Die aber entschlossen waren, nicht kampflos unterzugehen, wie Aba Kovner aus Wilna, Mordechaj Tannenbaum-Tamarow aus Bialystok und Mordechaj Anielewicz, die Seele des Warschauer Ghetto- Aufstands, mußten nicht nur gegen ihre eigene Gemeinde-Leitung kämpfen sondern auch gegen die Schicksalsergebenheit der meisten ihrer Landsleute. „Warum schießen diese Banditen“ rief eine verzweifelte Insassin des bialystoker Ghettos angesichts des Aufstandsversuchs von Tannenbaum-Tamarow aus, „sie stürzen uns alle ins Unglück“

Der letzte Abschnitt von Hilbergs Werk handelt von den Zuschauern der jüdischen Katastrophe, die fast allesamt Wegschauer waren. Je ein langes Kapitel gilt dabei den Nationen unter Hitlers Herrschaft und der Rolle der Alliierten. Hilberg läßt keinen Augenblick Zweifel daran zu, daß die meisten vom Krieg überzogenen Menschen mit Gleichgültigkeit auf alles reagierten, was sie nicht unmittelbar berührte bzw. ihrer Notlage entsprang. Dies vorausgesetzt, entwirft er eine Art Skala, an deren einem Ende Deutschland angesiedelt ist, wo „keine tiefe Kluft den Mann auf der Strasse von den Tätern trennte“; an deren anderem Ende steht ein Land wie Dänemark, das in einem beispielslosen Akt des Zusammenwirkens von Staatsstellen und gesellschaftlichen Initiativen fast seine gesamte Judenheit rettete.

Zum beeindruckendsten und zugleich am tiefsten deprimierenden Teil seiner Arbeit gerät Hilberg dann die Schilderung des verzweifelten Versuchs jüdischer Aktivisten, die westlichen Alliierten zu einer Rettungsaktion für die von der Vernichtung bedrohten europäischen Juden zu bewegen. War es schon schwer, die Vertreter des jüdischen Establishments in den USA und England aufzurütteln, durch nichts, durch gar nichts konnten die westlichen Regierungen veranlaßt werden, die grauenhaften Fakten auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Sie paßten nicht in die Strategie und die von ihr abgeleitete Propaganda. Diese tiefe Gleichgültigkeit, dieses Versagen der demokratischen Eliten ist es auch, das den Leser mit Blick auf die „Ereignisse“ von Rostock und danach mit Nachtgedanken erfüllt.

Raul Hilberg: „Täter, Opfer, ,Unbeteiligte‘“. Aus dem Amerikanischen von Günter Holl. Fischer Verlag 1992, 400 Seiten, 48 DM.