Geschichte über Geschichten

■ Ein Roman über Somalia: „Maps“ von Nuruddin Farah

Ein Junge wird geboren, seine Mutter ist tot. Ein blutverkrustetes Gesicht, zwei stechende Augen. Eine Frau nimmt ihn auf, ihren Gatten brachte sie um. Ein Fremdkörper ist sie unter den Somalis, da Äthiopierin; zwei Liebhaber schänden sie, geachtete Männer im Dorf.

Askar, der Junge, gewinnt sie lieb, die Ziehmutter Misra. Sie nennt ihn „mein Mann“, er sieht in ihr die Erde, das Gegenstück zum Himmel. Die Liebe ist kurz. Krieg herrscht zwischen Äthiopien und Somalia. Geschütze donnern; der Junge muß weg nach Mogadischu, die Frau bleibt zurück in der Angst. Später wird sie das Dorf verraten — in den Augen der Schänder. Und er wird den Himmel aufessen — in seinen Träumen.

Geburt und Tod, in der Mitte zwei Leben, die Anfang und Ende nicht kennen. Ihr Ursprung und Abschluß sind Erzählungen anderer, Legenden, Gerüchte, jederzeit veränderbar. Wer ist Askar? Er weiß es nicht, andere geben ihm Identität. Und wer sind die anderen?

„Maps“ ist eine Geschichte über Geschichten: Geschichte eines jungen Somalis in der somalisch bewohnten äthiopischen Provinz Ogaden; Geschichte Ogadens, um dessen Rückgewinnung von äthiopischer Besatzung Somalia vor weniger als zwanzig Jahren zwei Kriege führte (und sich 1978 geschlagen geben mußte); Geschichte Somalias, das nach Wiedervereinigung seines auf vier Staaten verteilten Volkes dürstet; Geschichte eines Volkes, das sich nicht kennt, das sich, der Realität zum Trotz, gesund und stark fühlt — kraft seiner überlieferten Glorie.

„Maps“ handelt von Wunden. Amputationen an Menschen- und Staatskörpern, Gefallenen in Armeen, Spaltungen in Gesellschaften, Löchern in Seelen. Heute, sechs Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung des Romans, ist die Wunde ins Unermeßliche gewachsen. Somalia, Land des Bruderkrieges und des Massenhungers, ist uns Europäern zum Inbegriff des Höllenlochs geworden, ein Ort, wo Skelette durch glühende Wüsten taumeln, wo die Ordnung der Welt kopfsteht. „Kriege“, sagt Askars Onkel Salaado, „sind in Flammen stehende Flüsse.“

Wo sind da noch Himmel und Erde, von denen Askar träumte? Wo bleiben Leben und Tod, die beiden verläßlichsten Geheimnisse? Askars Mutter starb, damit ihr Sohn leben konnte. Er zieht die Lehre daraus: Damit ein Mensch geboren werden kann, muß ein anderer sterben. Ein Leben endet, dafür beginnt irgendwo ein neues — die Summe bleibt konstant. Ist dies das Geheimnis des somalischen Elends? Je größer das Sterben, desto wundervoller das neu entstehende Leben?

Für Farah wird sein Land trotz aller Schrecken weiterleben. Er wurde in Baidoa geboren, jener Stadt, wo das somalische Elend, das uns bloß per Fernsehen erreicht, am größten ist. Trotzdem gilt auch für „Maps“, was Farah schon den Helden seines Romans „Wie eine nackte Nadel“ sagen läßt: „Lieber ein Jahrhundert mit Mühen und Enttäuschungen hier in diesem Land, als ein langer, glücklicher Tag irgendwo anders.“ Wer „Maps“ gelesen hat, ahnt zumindest, warum. Dominic Johnson

Nuruddin Farah: „Maps“. Roman. Ammann Verlag 1992, 381 Seiten, 44 DM.