■ Auf der Buchmesse zeigt Mexiko sein „modernes“ Gesicht
: Gibt es noch Indios?

Mexiko hat sich in Schale geworfen, um bei der 44. internationalen Buchmesse, die heute in Frankfurt beginnt, seine Kultur vorzuführen. Mexiko zeigt, daß seine Kultur neutral, mestizisch, schön, modern und universell ist. Zu diesem Zweck finden mehr als hundert Kulturveranstaltungen statt. 50 Schriftsteller nehmen teil— an ihrer Spitze der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz.

Es ist das erste Mal, daß ein lateinamerikanisches Land „die Ehre hat“, zentrales Thema der Buchmesse zu sein. Die mexikanischen Organisatoren haben sich viel vorgenommen. Sie wollen „eine kulturelle Invasion in Frankfurt und im Rest Deutschlands“ starten, wie die Koordinatorin des mexikanischen Programms, Eugenia Meyer, ankündigte. Dafür wurden Milliarden Pesos ausgegeben und zum Bombastischsten gegriffen, was die nationale Kunst des Landes zu bieten hat.

Eine Woche nach der Buchmesse werden sich in Mexiko- Stadt Indios aus ganz Amerika treffen. Am 12. Oktober, dem Jahrestag der Landung von Kolumbus in der „Neuen Welt“, wollen sie gegen die offiziellen 500-Jahr-Feiern protestieren. Die „kulturelle Invasion“, die das offizielle Mexiko in Europa vorhat, übergeht diesen „indianischen“ Teil. Auch die weltweite Polemik über die 500-Jahr-Feiern jenes Ereignisses— das je nach Standpunkt „Entdeckung“, „Treffen zweier Kulturen“ oder „europäische Invasion“ genannt wird — ist der Buchmesse fremd.

Es war in Mexiko — genauer: in der Stadt Tenochtitlan —, wo am 13. August des Jahres 1521 das Azteken-Reich zusammenbrach. Nach dem alten aztekischen Kalender war das der Uno-Coatl (Tag Eins-Schlange) im Monat Xolotl (Hund) im Tres-Calli (Jahr Drei- Haus). Dieses Datum steht für eine Katastrophe: Der amerikanische Kontinent mit seinen dichtbevölkerten Hochebenen wurde brutal in die Geschichte des „Westens“ hineingerissen.

Inszenierung der Modernität

Die Indios und „indianisierten“ Mestizen, die sich im Oktober in Mexiko-Stadt treffen, werden eine „kulturelle Erklärung“ abgeben. Dabei unterscheiden sie nicht zwischen Kultur und Politik. Die gleichzeitige Inszenierung des offiziellen Mexiko im Herzen Europas bringt Beiträge. Vorgeführt werden mexikanische Künstler, die der Regierung am nächsten stehen— eine Minderheit der mexikanischen Kunstszene.

Mexiko will der Welt ein mestizisches, vor Reichtum strotzendes Bild seiner selbst zeigen. Der vorspanische Teil kommt darin nur als tote und definitiv überwundene Vergangenheit vor. Die Auswahl von Schriftzeichen, Grabstellen und alten Handschriften, die die Flammen der Inquisition überstanden, sowie die Filme über vorspanische Kunst vermitteln den Eindruck einer Leere im Mexiko vor der Conquista. Die vorkolumbische Kultur wird nicht als etwas Lebendiges begriffen, das in den Indigenas heute fortlebt. Die indianische Erzählkunst war den Verantwortlichen in Frankfurt kein eigenes Forum wert: Kein einziger Aussteller, keine einzige Ausstellerin der zeitgenössischen Indigena-Kultur nimmt an der Buchmesse teil. Es wurden keine Schriftsteller eingeladen, die ihre Texte in autochthonen Sprachen schreiben. Vergeblich sucht man auch Experten und Übersetzer des Nahuatl — der größten indianischen Sprache Mexikos —, wie Alfredo Lopez Austin oder Joaquin Galarza, der die vorspanischen phonetischen Zeichnungen entziffert und übersetzt hat.

Zu Recht schrieb der Historiker Miguel de Leon-Portilla, das kastilische Spanisch sei zwar die offizielle Sprache Mexikos, nicht aber die nationale. Zur ersten vollständigen Übersetzung der aztekischen Version der Conquista kam es erst im Jahr 1983. Sie wurde in Frankreich von Georges Baudot und Tzvetan Teodorov publiziert. In Mexiko erschien sie auf spanisch erstmals im Jahre 1990 — über 400 Jahre nachdem die aztekischen Chronisten ihre Version der Ereignisse aufgezeichnet hatten.

Indigene Kultur ist tabu

Zwar ist im Programm der Buchmesse von einer „Förderung der Lektüre indigener Sprachen“ die Rede. Doch wer weiterblättert, muß vermuten, daß es keinen einzigen Exponenten der Welt der amerikanischen Ureinwohner mehr gibt. Ratlos stellen sich mexikanische Besucher dieselbe Frage wie viele Europäer. Gibt es noch Menschen, die „Aztekisch“ sprechen? Gibt es noch Indios? Auch im Beiprogramm der Buchmesse findet sich nur mestizische Kultur. Da wird gezeigt, daß Mexiko — Dritte Welt hin oder her — Schriftsteller hat, die Bestseller schreiben. Und daß es erfolgreiche Filmemacher, Avantgarde- und Klassik-Musiker gibt. Moderne Tanzgruppen und ein Flamenco-Solo sollen zeigen, wie fortschrittlich das Land ist. Kammermusik-, Jazz- und Gitarren-Konzerte sollen beweisen, daß auch Mexiko eigene klassische Werte hat. Auch die gebotene Folkloremusik wie Mariachiklänge, Marimba- und Salsa- Konzerte hat nichts mit indianischer Kultur zu tun.

Es gibt aber eine ganze Reihe bemerkenswerter Vertreter der lebendigen Kunst der indianischen Bevölkerung Mexikos. Schließlich leben in Mexiko heute zwischen 10 und 11 Millionen „Indios“. Vier Millionen von ihnen sind zweisprachig — das heißt, sie sprechen auch Spanisch. Hinter der Auswahl für die Buchmesse steckt System. Der Ausschluß der indianischen Welt von einem internationalen mexikanischen Forum ist nichts weiter als Ausdruck ihrer Marginalisierung in Mexiko — nicht nur auf kultureller, sondern auch auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Die indianische Bevölkerung von Mexiko — wie die von ganz Lateinamerika — ist aufs bloße Überleben reduziert. Die „Indios“ sind die Ärmsten unter den Armen, ihre Kunst wird „Kunsthandwerk“ genannt, ihre Sprache „Dialekt“, ihre Kultur „Folklore“. Wenn ihre Kultur überhaupt zu etwas dient, dann dazu, Touristen ins Land zu holen, um die Schatztruhen der Regierung mit Devisen zu füllen und den Nationalstolz zu stärken.

Indianische Wiedergeburt

Das Fortleben der indianischen Völker, ihrer Kultur und ihrer Vision der Welt, die sie über 500 Jahre Unterdrückung, Ausbeutung und Elend gerettet haben, kann nicht ignoriert werden. Als Cortes nach „Amerika“ kam, gab es auf dem Kontinent ungefähr 65 Millionen Einwohner, 25 Millionen von ihnen lebten im heutigen Mexiko. 1523, zwei Jahre nach der Invasion, war die ursprüngliche Bevölkerung durch Krankheiten und Massaker auf 16 Millionen Menschen reduziert. Im Jahr 1548 lebten noch zweieinhalb Millionen „Indios“, 1595 waren es nur noch knapp über eine Million. Bis heute hat die indianische Bevölkerung Mexikos wieder 60 Prozent der Zahl erreicht, die sie vor der Ankunft von Cortes hatte. Trotz der systematischen Verleugnung ihrer Kultur und der Infiltration evangelischer Sekten in das Herz ihrer Traditionen. In den Anden-Ländern und in Zentralamerika gewinnen indianische Gemeindeorganisationen und Ältestenräte wieder an Bedeutung. Die Sterilisationskampagnen, die Morde in indianischen Gemeinschaften, die Verfolgung und die Kriminalisierung indianischer Führer haben das nicht verhindern können. Saide Sesin

Die Autorin ist mexikanische Journalistin. Sie lebt in Hamburg.