ÖTV kündigt 38,5-Stunden-Woche auf

■ Weichen für Tarifrunde 93 gestellt: Reallohnsicherung und kürzere Arbeitszeit

Stuttgart (taz/AP/dpa) — Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) hat den Tarifvertrag über die 38,5-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst Westdeutschlands zum Jahresende gekündigt. Nach mehr als vierstündiger kontroverser Debatte stellte die Große Tarifkommission gestern damit die Weichen für die Tarifrunde 93: Auch wenn der endgültige Forderungskatalog für die rund 2,3 Millionen Beschäftigten erst Ende November aufgestellt wird, dürfte klar sein, daß die ÖTV neben Einkommensverbesserungen auch eine weitere Arbeitszeitverkürzung durchsetzen will. Der derzeitige Tarifvertrag über die Arbeitszeit läuft Ende Dezember aus — wird dieser nicht gekündigt, verlängert er sich automatisch.

Die Priorität der ÖTV für die kommende Lohnrunde, sagte Monika Wulf-Mathies nach der Sitzung, werde wie im letzten Jahr aber bei Lohn- und Gehaltserhöhungen liegen. Die Marge legte die ÖTV-Chefin dabei gleich fest: Ihre Gewerkschaft wolle eine Reallohnsicherung im Jahr 1993 erreichen — demnach werden die Forderungen über der Inflationsrate liegen. Die künftige wöchentliche Arbeitszeitverkürzung „soll und darf nicht zu Lasten der Lohnprozente gehen“, so die ÖTV-Vorsitzende weiter. Der Einstieg in die weitere Arbeitszeitverkürzung soll zwar im Rahmen der anstehenden Tarifverhandlungen vereinbart werden, die neue Arbeitszeitregelung aber erst später wirksam werden.

Die Entscheidung der Großen Tarifkommission fiel mit 73 zu 40 Stimmen für Gewerkschaftsverhältnisse denkbar knapp aus. Der hessische ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai hatte sich am Morgen noch skeptisch gezeigt: Die breite Mehrheit der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sei gegen eine weitere Arbeitszeitverkürzung in dieser Tarifrunde, so Mai. Als Grund dafür nannte er den sehr eng gewordenen Verteilungsspielraum für das Jahr 1993. Es gebe zwar intensive Diskussionen und kontroverse Meinungen, „auf keinen Fall aber werden wir die Stimmung bei den Mitgliedern überhören, sondern sehr sensibel auf sie eingehen“, versicherte der Funktionär.

Es sei aber genau abzuwägen, ob man auf Einkommen verzichten wolle, um weitere Arbeitszeitverkürzung zu erhalten. Der schwelende Konflikt zwischen Ansprüchen der Basis und der Gewerkschaftsführung hatte in der ÖTV bereits im Frühjahr zu einer Zerreißprobe geführt, nach dem die Mitglieder dem letzten Tarifabschluß bei der Urabstimmung ihren Segen verweigerten.

Dennoch: der öffentliche Dienst kann sich nicht ganz von den bereits vereinbarten stufenweisen Arbeitszeitverkürzungen in der Privatwirtschaft abkoppeln lassen, denn dadurch würden die Arbeitsplätze bei Bund, Ländern und Kommunen sowie bei Post und Bahn noch unattraktiver, als sie es schon sind. In der Metallindustrie wird gegenwärtig 37 Stunden in der Woche gearbeitet; im April 1993 beginnt dort die 36-Stunden- Woche. es