■ Kommentar
: Gegen die Gewöhnung

Man muß es sich schon immer wieder sagen: 1992 ist nicht 1933, und die Bundesrepublik ist nicht diejenige von Weimar. Wer so argumentiert, hat sich in den Maßstäben vergriffen. Dennoch: angesichts der nicht abreißenden Meldungen über rassistische Überfälle, zunehmende Ausländerfeindlichkeit und der erbarmungslosen Kaltschnäuzigkeit mancher Politiker gegenüber verfolgten Menschen wird es immer schwieriger, an das festgefügte demokratische Fundament dieses Staates zu glauben. Nahezu jeden Tag wird man dazu gezwungen, etwas als furchtbare Realität anerkennen zu müssen, was gestern noch unvorstellbar war. Jede Meldung aber verändert die Verhältnisse in Deutschland; alle tragen schleichend dazu bei, neue, furchtbare Normalitäten zu erzeugen. Vor wenigen Tagen war es der Brandanschlag auf das KZ Sachsenhausen. Nun tritt ein Neuköllner Bezirksverordneter zurück, nachdem er von Rechtsradikalen massiv bedroht wurde. Auch dies ist in Nachkriegsdeutschland ein bislang einmaliger Vorgang. In einer solchen Weise wurden demokratisch gewählte Politker bisher nur von den Nazis in der Agonie der Weimarer Republik drangsaliert.

Wer einwendet, Drohungen und telefonische Belästigungen hat es auch bislang gegeben, liegt falsch. Die neue Qualität ist, daß die antidemokratischen Kräfte erstmalig auch in der Lage sind, diese Drohungen wahr zu machen. Für die demokratischen Parteien und politischen Organisationen, die selbst nach dem Anschlag in Sachsenhausen noch zögern, auf die Straße zu gehen, wird es nun allerhöchste Zeit, Flagge zu zeigen. Die Vorkommnisse im Neuköllner Parlament bedürfen einer eindeutigen Solidarität. Um Parteizugehörigkeit kann es nicht gehen, hier wird ein Grundelement des demokratischen Staats öffentlich demontiert. Es führt für die demokratischen Parteien kein Weg daran vorbei, gemeinsam die politische Initiative zu übernehmen und diese Demokratie zu verteidigen, sollen die Menschen nicht durch die Flut der Meldungen abstumpfen und sich eingewöhnen — oder verzweifeln. Noch ist Deutschland nicht Weimar. Das muß jetzt auf der Straße deutlich werden. Gerd Nowakowski