Erlkönigs Töchter

Neue Gedichte von Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker, Karin Kiwus und Evelyn Schlag  ■ Von Michael Braun

Kann es das noch geben: ein reines, unverfälschtes Naturgedicht voll inniger Emphase über Wind, Wolken, Wasser und Vogelflug? Ein begeisterter Hymnus auf den „grünen Himmel auf Erden“, eine Beschwörung zauberhafter Naturkräfte? Sarah Kirsch jedenfalls setzt in ihrem neuen Gedichtband „Erlkönigs Tochter“ ihr „Gespräch über Bäume“ unbeirrt fort und präsentiert sich einmal mehr als poetische Retterin des Naturschönen. Als Sehnsuchtslandschaft hat sie sich diesmal die eisigen Regionen des Nordens ausgesucht, wo es „nach Tang, Salz und Wahrheit riecht“. Euphorisiert durch „die Qualmvulkane und Fauchenden Wasser“ Islands, die Fjorde und „geisterhaften Gestade“ Norwegens, besingt sie in bildkräftigen Gedichten das Toben der Elemente. So auch im Gedicht „Auf einer Klippe“: „Das Meer brüllte im Wind/ und übertraf ihn./ Ich ging/ in seinem und seinem/ Schreien und Wehen/ auf Lavastufen. Der/ Wind ist alt er/ Lachte als er mich/ Sah. Übergab mir der/ Meergänse Schrei.“ Nicht der Mensch, sondern die Natur triumphiert in diesem Gedicht als handelndes Subjekt: Meer, Wind und Steine sind „älter“ als der Mensch, überdauern ihn und übertreffen seine Weisheit.

Derart hingerissen von der eigenen Faszination, projiziert Sarah Kirsch magische Urkräfte auf Land und Landschaft. Immer wieder formuliert sie ihr tiefes Staunen vor den überwältigenden Naturerscheinungen. An diesem Staunen auch den Leser partizipieren zu lassen, verlangt höchste Konzentration und Genauigkeit der Beobachtung. Die Präzision aber beschränkt sich nicht selten auf die bloße Nennung geologischer oder botanischer Details oder geht ganz unter in schwärmerischer Naturbegeisterung: „Vor Norwegens Winter zieh ich/ den Hut, den eisbepackten den nackten Gipfeln.“ Auch Sarah Kirschs Naturgedicht verfällt bisweilen in Routine.

Routine aber ist der Tod jeder Poesie, ebenso die Unterwerfung des Gedichts unter feste Formmuster und Versschablonen.

Eine Lyrikerin, die seit über vierzig Jahren mit Erfolg gegen die Verfestigungen und Erstarrungen der Gedichtform anschreibt, ist die mittlerweile achtundsechzigjährige Friederike Mayröcker. „Stehe vor einem Rätsel, wenn ich zu schreiben beginne“, heißt es an einer Stelle ihres neuen Gedichtbands „Das besessene Alter“. Dieser selbstreflexive Moment des Innehaltens, dieser unruhige prüfende Blick auf die Motivationen und Antriebskräfte des eigenen Schreibens ist charakteristisch für die Texte von Friederike Mayröcker. Obwohl die Autorin mittlerweile über vierzig Bücher, Lyrik und Prosa, veröffentlicht hat, bekennt sie sich immer wieder zur eigenen Ratlosigkeit, wenn es darum geht, feste poetologische Positionen zu beziehen. Jeder neue Anlauf zum Schreiben ist für sie ein Aufbruch ins Ungewisse, Nebelhafte, nur Geahnte. Auch am Ende eines Gedichts stehen keine Sinngebungen oder Gewißheiten, sondern immer nur neue Fragen und Rätsel, die der Schreibprozeß aufs neue in Gang setzen.

Der neue Gedichtband, der Texte aus den Jahren 1986-1991 versammelt, ist, wie die vorangegangenen Bücher, ein Tagebuch der poetischen Welterkundung, ein artifizielles lyrisches Diarium, in das fortlaufend visuelle oder akustische Eindrücke, Gedanken, Erinnerungsbilder, plötzlich aufblitzende Assoziationen, „Echos einer Lektüre“ und Traumbruchstücke eingetragen werden. Auslöser der assoziativen Schreibbewegung kann ein flüchtiger Blick aus dem Fenster, ein Traumbild oder auch ein literarischer Zufallsfund sein — ist der Schreibprozeß erst einmal in Gang gekommen, werden die einzelnen Bewußtseinspartikel so schroff nebeneinander gesetzt, daß häufig der Eindruck des Bruchstückhaften und Unfertigen zurückbleibt. Privates und scheinbar Nebensächliches fließt ungefiltert in die Gedichte ein, stehen sperrig neben surrealen Visionen und manch kühner Metapher. Aber gerade dieses Verfahren der assoziativen Montage hält die Sprache des Gedichts in Bewegung, der unruhige Wechsel zwischen den verschiedensten Redeweisen zwingt zur aufmerksamen Lektüre. „Das „freie“ oder „totale“ Gedicht, das ich anstrebe“, so Mayröcker bereits 1967, „ist meiner Vorstellung nach ein Gedicht, das einen Ausschnitt aus der Gesamtheit meines Bewußtseins von der Welt bringt. ,Welt‘ verstanden als Vielschichtiges, Dichtes, Bruchstückhaftes, Unauflösbares.“

Das Titelgedicht zeigt die Autorin verstrickt in eine Obsession, die mit zunehmendem Alter keineswegs nachgelassen hat: die der Wahrnehmungs- und Schreibbesessenheit. Auch hier werden punktuelle Impressionen und Gedankenfetzen verschiedenster Art zusammengeführt, als gelte es, die Bewegung des Bewußtseins detailgetreu und synchron abzubilden. Nichts wird hier gewaltsam harmonisiert, versöhnt, auf eine Pointe oder einen fixen Sinn-Punkt gebracht — alles bleibt offen: das Gedicht ist Fragment, die Konstellation der Wörter disponibel.

Eine solche Schreibweise birgt natürlich Risiken: Sie verführt zur wahllosen Aufhäufung disparatester Stoffe und Motive, zur unkontrollierten Aufblähung des Textes. Wie konzentriert jedoch Friederike Mayröcker an ihren Texten arbeitet, das belegt z.B. das Gedicht „Lection“, das gleich in vier Versionen abgedruckt ist. Unter dem Eindruck des Golfkrieges geschrieben, werden apokalyptische Schreckensszenen, biblische Motive und Bilder eines deformierten Körpers miteinander verknüpft. Zu den bedrängendsten Erfahrungen des schreibenden Ich in „Das besessene Alter“ gehört „die Angst vor dem Sterben“, die sich stets unerwartet, während alltäglichster Verrichtungen, einstellt. „Dieser Morgen vollkommen lautlos/ vollkommen stumm nur die schweren rollenden/ Wagen von Zeit zu Zeit in der Straße/ unantastbar beinahe Himmelreich“ — So ruhig und beinahe idyllisch beginnt „Vervielfältigungen eines Gefühls“, bis sich kurz darauf überfallartig die Todesgedanken melden und dem Gedicht eine neue Richtung geben.

Zu der Erfahrung von Vergänglichkeit und Leibzerfall tritt die Sorge um die nächsten Angehörigen und Vertrauten. Ganz unverhüllt autobiographisch, sind viele Gedichte des Bandes der sterbenden Mutter und dem schwerkranken Lebensgefährten Ernst Jandl gewidmet. Immer wieder zieht sich Friederike Mayröcker aus den Bedrängnissen der Gegenwart zurück in die „Dunkelkammer“ der Kindheit, um dort zu forschen nach den Ursprüngen der eigenen Existenz und um sich der eigenen Anwesenheit in der Welt zu vergewissern.

Diese Suche nach den Bildern eines Anfangs, nach den Konturen der eigenen Identität, dieser beständige Versuch poetischer Selbstvergewisserung kennzeichnet auch die neuen Gedichte von Karin Kiwus. Der rätselvolle Titel ihres neuen, nach ungewöhnlich langer Schreibpause veröffentlichten Gedichtbandes erweist sich als eine Metapher für das Gedichteschreiben. „Das chinesische Examen“, so belehrt uns der Klappentext, „ist als Verfahren überliefert, in dem der Proband aufgefordert wird, schriftlich Rechenschaft abzulegen über alle Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse, die ihn während einer bestimmten Spanne seines Lebens geprägt haben“. Auch wer Gedichte schreibt, vollzieht ja eine solche Selbstprüfung. Die prägenden Erlebnisse und Erfahrungsaugenblicke, die Karin Kiwus in ihren Gedichten aufzeichnet, sind nie bloß privater Natur, sondern zielen stets auf Allgemeines: auf die Hoffnungen, Illusionen und Enttäuschungen jener Generation, die sich einst von kulturrevolutionären Utopien begeistern ließ.

Es ist also kein Zufall, daß in diesen Gedichten häufig ein lyrisches „Wir“ auftritt, das Repräsentanz beansprucht. „Was stellen wir nicht an/ um hinlänglich unglücklich zu sein“, heißt es selbstironisch im Gedicht „Selbsterlebnisverjährung“. Und tatsächlich sind in der poetischen Lebensbilanz, die Karin Kiwus vorlegt, nur wenige Epiphanien und Glücksaugenblicke verzeichnet, dafür reichlich Ernüchterungen und Rückschläge: „Und dann wieder der Einfall des Lichts/ der gewöhnlichen wüsten/ wahrnehmungslosen Tage,/ die Leere bei offenen Lidern,/ entzündende Höhlen, Schrumpfungsprozeß.“

Ruhige, erzählende Gedichte, in denen noch der sprachnaive Ton der „Neuen Subjektivität“ nachhallt, stehen neben äußerst komplexen, schwierigen Texten, die auch mal ins Pathos abheben können. Bilder vergangener und künftiger Kriege blitzen auf, Szenen aus der nicht abreißenden Tradition der Menschenverachtung in Deutschland. Daneben wieder stark verschlüsselte Texte, die von der Begegnung mit Kunstwerken und von quasi-mystischen Erlebnissen (etwa einer Wallfahrt nach Fatima) handeln.

Wo Friederike Mayröcker auf die Eigendynamik der unruhig mäanderierenden Sprachbewegung vertraut, da neigt Karin Kiwus zur lyrischen Überhöhung, zum schön kolorierten Bild. Da wird dann manchmal eine Szene, eine Landschaft allzu farbensüchtig ausgepinselt, da erreicht der lyrische Ton eine unangenehm pathetische Feierlichkeit: „In der Ferne, den Horizont hinaus, das Tosen/ des Universums, mit der Brandung ein Atem/ wieder durch meinen Körper. Eine Freude,/ eine Gleichgültigkeit und Energie.// Und auch, ich erinnere mich, habe ich/ den Flutsaum der Meere immer/ wie eine Haut gespürt, eine innere Haut,/ sandgrau, rosagrau, schleimgrau, molluskenfarben./ Ein Mund, eine Lunge oder ein Schoß. Ein Gewebe,/ das Leben beginnt, fraglos, ohne Aufsehen und Sinn.“

Glücklicherweise macht Karin Kiwus nur selten von diesem vornehm lyrisierenden Ton Gebrauch. Evelyn Schlags Gedichte dagegen beschreiten den Weg des geringsten Widerstands. Als „Orpheus, weiblich“ hatte sich die österreichische Lyrikerin in ihrem ersten Gedichtband „Ortswechsel des Herzens“ (1989) präsentiert — viel mehr als ein paar gefällige Ulla Hahnsche Liebesseufzer waren dabei nicht herausgekommen. Im ersten und zweiten Kapitel ihres neuen Gedichtbandes „Der Schnabelberg“ setzt Evelyn Schlag das uralte Spiel mit der „schweren unheilbaren Liebe“ fort. Auf Liebesgedichte aber, die mehrfach mit abgedroschenen Signalwörtern wie „Sehnsucht“ oder Platitüden wie „Gefühle sind ein Kapitel für sich“ um die Gunst des Lesers buhlen, reagiere ich prompt mit Liebesentzug.

Die wenigen nachdenkenswerten Gedichte des Bandes finden sich im dritten und letzten Teil: sehr einfache, aber überraschend unprätentiöse Erzählgedichte über die Kindheit und das Erwachsenwerden, kleine Alltagsgedichte, poetische Gedenkblätter. Sie sitzen nicht, wie die Liebesgedichte, dem Mißverständnis auf, man müsse in einen schwelgerisch-betörenden Singsang verfallen, wenn es um Emotionen und Affekte geht. „Gedichte“, schreibt Evelyn Schlag, „sind Geheimnisse, die /man Fremden anvertraut zugleich/ eine Art höherer Post letzte Weisheit/ wenn sonst alle Briefe verlorengehen“.

Nicht alle Geheimnisse, dies zeigt die leidvolle Erfahrung mit neuen und allerneusten Gedichtbänden, bedürfen der Enthüllung. Denn was uns in zeitgenössischen Gedichten gemeinhin als „letzte Weisheit“ angeboten wird, ist meist von beschämender Dürftigkeit.

Sarah Kirsch: „Erlkönigs Tochter“. Gedichte. Deutsche Verlagsanstalt 1992, 72 Seiten, ca. 24DM.

Friederike Mayröcker: „Das besessene Alter“. Gedichte 1986-1991. Suhrkamp Verlag 1992, 172 Seiten, 32DM.

Karin Kiwus: „Das chinesische Examen“, Gedichte. Suhrkamp Verlag 1992, 80 Seiten, 24DM.

Evelyn Schlag: „Der Schnabelberg“. Gedichte. S. Fischer Verlag 1992, 126 Seiten, 24DM.